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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0324
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304 Jenseits von Gut und Böse

Assoziation von Teufel und Versucher findet sich im Neuen Testament, beson-
ders prominent in der Geschichte von Jesu Versuchungen in der Wüste, die
auch für N.s Szenen-Repertoire wichtig ist (vgl. z. B. NK 6/2, S. 666-672). Mat-
thäus 4, 1 beginnt in der von N. benutzten Version der Luther-Übersetzung:
„Darauf wurde JEsus vom Geist in die Wüste geführet, auf daß er von dem
Teufel versucht würde.“ (Die Bibel: Neues Testament 1818, 5) In Matthäus 4, 3
heißt es dann: „Und der Versucher trat zu ihm“ (ebd.). Nachdem Jesus der
ersten und der zweiten Versuchung widerstanden hatte, ließ er den Teufel ge-
mäß Matthäus 4, 7 wissen: „Du sollst GOtt, deinen HErrn, nicht versuchen“
(ebd.). Der Teufel kann also nicht nur Menschen in Versuchung führen (vgl.
z. B. 1. Thessalonicher 3, 5. Die Bibel: Neues Testament 1818, 245), sondern
auch Gott. Es ließe sich aber auch fragen, ob Menschen durch ihr Verhalten
einen anthropomorph gedachten Gott in Versuchung führen können, etwas zu
tun, was er eigentlich nicht tun wollte. Überhaupt ist der Zusammenhang von
Versuchung, Versucher und Versuchten im Neuen Testament nicht ganz so ein-
deutig, wie es auf Anhieb scheint, denn im Vaterunser, das Jesus seine Jünger
lehrt, wird Gott angesprochen mit der Bitte: „Und führe uns nicht in Versu-
chung, sondern erlöse uns von dem Uebel.“ (Matthäus 6, 13. Die Bibel: Neues
Testament 1818, 8) Also muss es letztlich Gott selbst sein, der entweder direkt
in Versuchung führt oder - wie bei Jesus und der Schlange im Paradies nach
Genesis 3 - zulässt, dass Menschen in Versuchung geführt werden. Einem sol-
chen Gott Allgüte zu prädizieren, wie das die nachbiblische christliche Theolo-
gie dann tat, fällt einigermaßen schwer: Was ist von der moralischen Integrität
eines Gottes zu halten, der seine Geschöpfe in Versuchung führt? Als bloße
Erprobung der Glaubensfestigkeit wird man das jedenfalls nicht abtun können;
denn ginge es darum, müssten die Gläubigen nicht beten, von der Versuchung
verschont zu bleiben.
Dennoch werden die „Philosophen der Zukunft“ in JGB 42 bewusst als An-
tagonisten des moralischen Gottes der Vergangenheit, wie er gemeinhin christ-
lich geglaubt wird, in Szene gesetzt: Sie sollen als Experimentatoren mit dem
Menschlichen und als Temptatoren des Menschlichen verstanden werden, wo-
mit sie dem alten Schöpfergott doch nicht ganz unähnlich sind. „[Vielleicht
auch“ zu „Unrecht“ werden sie „Versucher“ geheißen, weil sie auf eigene Rech-
nung agieren und nicht mehr, wie der Teufel in Matthäus 4, in göttlichem Auf-
trag. In die Fußstapfen sowohl des zu Versuchungen verleitenden, alten Gottes
als auch des Zukunftsphilosophen tritt dann in JGB 295 versuchsweise und
versuchshalber „der Versucher-Gott“ (KSA 5, 237, 3), der auf den Namen Diony-
sos hört. Vgl. Pippin 2006.
 
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