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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0326
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306 Jenseits von Gut und Böse

weil die Philosophen es eben bisher immer gewesen seien. Entweder nimmt
man das ernst und versteht es ganz formal: Notwendige Bedingung für die
Zugehörigkeit zur Gruppe der Philosophen ist Wahrheitsliebe (auch wenn sie
sich wörtlich als die ,Weisheitsliebenden4 ausweisen). Oder aber man gerät in
systematische Bedrängnis: Denn im Fortgang wird zugunsten persönlicher
(statt allgemeiner) Wahrheiten vom „schlechten Geschmack“ gesprochen, von
dem es zeuge, „mit Vielen übereinstimmen zu wollen“ (60,11 f.). Wäre es dann
nicht ein prekäres Zeichen schlechten Geschmacks, wollten die Philosophen
der Zukunft mit denen der Vergangenheit ausgerechnet in ihrer Wahrheitsliebe
übereinstimmen?
60, 4 f. Sicherlich aber werden es keine Dogmatiker sein.] Zum Begriff der Dog-
matiker vgl. NK 11, 2-4. Während Nehamas 2002, 33 im Blick auf JGB 43 „Dog-
matiker“ in einem offenen Sinn bei N. für diejenigen benutzt sieht, die ihre
Wahrheit allgemein machen wollen, halten Clark/Dudrick 2012, 17 f. dagegen
an ihrem an Spir und Kant orientierten Begriff von „Dogmatiker“ fest und prä-
sentieren eine dem entsprechende Lesart von JGB 43 (ebd., 18, Fn. 2).
60, 5-12 Es muss ihnen wider den Stolz gehn, auch wider den Geschmack, wenn
ihre Wahrheit gar noch eine Wahrheit für Jedermann sein soll: was bisher der
geheime Wunsch und Hintersinn aller dogmatischen Bestrebungen war. „Mein
Urtheil ist mein Urtheil: dazu hat nicht leicht auch ein Anderer das Recht“ —
sagt vielleicht solch ein Philosoph der Zukunft. Man muss den schlechten Ge-
schmack von sich abthun, mit Vielen übereinstimmen zu wollen.] Wenn die Zu-
kunftsphilosophen die Wahrheit augenscheinlich privatisieren werden, liqui-
dieren sie oder liquidiert der Sprechende in ihrem Namen das, was seit der
Antike als wesentliches Kriterium für Wahrheit galt, nämlich der Consensus
omnium, die Übereinstimmung aller. Bei Chrysipp in der älteren Stoa gelten
beispielsweise die „Koivai evvoiai“, die gemeinsamen Vorstellungen als die
Richtschnur der Wahrheit, die uns die Natur gegeben hat (Arnim 1903-1924, 2,
154, 29 f., vgl. auch Aristoteles: Nikomachische Ethik 1173a). Wenn die Wahrheit
nichts Allgemeines sein soll, sondern jeder Zukunftsphilosoph sie eifersüchtig
für sich hütet, dann wird Kommunikation schwierig, und der Begriff der Wahr-
heit stimmt nur noch dem Worte, aber nicht der Sache und ihrem Anspruch
nach mit dem überein, was bisher „alle Philosophen liebten“ (60, 2f.). Dass
für die Meinungen der Zukunftsphilosophen der Ausdruck „Wahrheit“ noch
Verwendung finden soll - N. hätte ohne Not stillschweigend auf ihn verzichten
können -, potenziert die Provokation gegenüber den herkömmlichen Philoso-
phen. Empören muss diese herkömmlichen Philosophen auch, dass die Frage
nach der Wahrheit auf der Ebene der Geschmacksästhetik und nicht auf der der
Erkenntnistheorie, der Logik oder der Ontologie verhandelt wird: Allgemeine
 
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