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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0328
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308 Jenseits von Gut und Böse

phen erst recht zugemachte Fenster und verriegelte Thüren sein müssen. Sie ge-
hören, kurz und schlimm, unter die Nivellirer, diese fälschlich genannten
„freien Geister“ — als beredte und schreibfingrige Sklaven des demokratischen
Geschmacks und seiner „modernen Ideen“: allesammt Menschen ohne Einsam-
keit, ohne eigne Einsamkeit, plumpe brave Burschen, welchen weder Muth noch
achtbare Sitte abgesprochen werden soll, nur dass sie eben unfrei und zum La-
chen oberflächlich sind, vor Allem mit ihrem Grundhange, in den Formen der
bisherigen alten Gesellschaft ungefähr die Ursache für alles menschliche Elend
und Missrathen zu sehn: wobei die Wahrheit glücklich auf den Kopf zu stehn
kommt! Was sie mit allen Kräften erstreben möchten, ist das allgemeine grüne
Weide-Glück der Heerde, mit Sicherheit, Ungefährlichkeit, Behagen, Erleichte-
rung des Lebens für Jedermann; ihre beiden am reichlichsten abgesungnen Lie-
der und Lehren heissen „Gleichheit der Rechte“ und „Mitgefühl für alles Leiden-
de“, — und das Leiden selbst wird von ihnen als Etwas genommen, das man
abschaffen muss.] Auf der Linie einer Zurücknahme plakativer Selbstidenti-
fikationen mit den „Philosophen der Zukunft“, durch die sich die Abschnitte
JGB 42 und 43 von jenen Vorarbeiten unterschieden haben, in denen bereits
das sprechende „Wir“ als zugehörig zu den vorweggenommenen Zukunftsphi-
losophen aufgetreten war, steht auch dieser Passus in JGB 44. Jetzt agiert die-
ses „Wir“ ausdrücklich nur als einer der „Herolde und Vorläufer“ - die immer-
hin zu den ,,freie[n] Geister[n]“ gehören (vgl. auch Strauss 1983, 175).
Gemäß dem Untertitel sollte MA „Ein Buch für freie Geister“ (KSA 2, 9, 3)
sein, wodurch Verbundenheit mit der freigeistigen Tradition der französischen
Aufklärung markiert wurde. Um sich von mittelmäßigen Freigeistern zu unter-
scheiden, zog N. den getrennt geschriebenen „freien Geist“ vor. Freigeistern
fehlt die nötige Radikalität und Härte des Geistes, um sich nicht zu Handlagern
„des demokratischen Geschmacks“ zu machen - sie huldigen der alten Moral,
indem sie „Gleichheit der Rechte“ (vgl. z. B. NK 48, 14-22 u. NK KSA 6, 27, 25)
ebenso fordern wie Mitgefühl für die Leidenden (vgl. NK KSA 6, 351, 5), ja selbst
die Abschaffung des Leidens (vgl. NK 161, 2-6). Demgegenüber arrangiert JGB
44 das Leiden als eine produktive Größe: Erst durch das Leiden wird der freie
Geist, was er ist - am Ende womöglich gar ein Philosoph der Zukunft. Das ist
ein ganz anderes Glück als das Glück der Herde (wozu N. sich beispielsweise
bei Galton 1883, 72-74 belesen hatte, vgl. Haase 1989, 645 u. NK ÜK JGB 199).
61,15 f. wobei die Wahrheit glücklich auf den Kopf zu stehn kommt!] Im Druck-
manuskript hieß es ursprünglich: „worin ich die niaiserie moderne par excel-
lence erkenne“ (KSA 14, 354).
61, 22-62, 6 Wir Umgekehrten, die wir uns ein Auge und ein Gewissen für die
Frage aufgemacht haben, wo und wie bisher die Pflanze „Mensch“ am kräftigsten
 
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