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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0335
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Stellenkommentar JGB 45, KSA 5, S. 65-66 315

gen der Priester“ durch die „falschen Behauptungen der homines religiosi“
ersetzt (KGW IV 4, 187). In Jenseits von Gut und Böse ebenso wie in einigen
Nachlasstexten scheint die Semantik der „homines religiosi“ zu jenem heute
(dank N.?) landläufig gewordenen Begriff der „religiösen Menschen“ geglättet
zu sein (vgl. Stegmaier 2012, 228-230; zur Interpretation der Stelle in JGB 45
siehe auch Voegelin 1996, 148 f. u. Poljakova 2010, 137).
65, 25 f. so tief, so verwundet, so ungeheuer sein, wie es das intellektuelle Gewis-
sen PascaVs war] Blaise Pascal kommt im Drucktext von JGB erstmals an dieser
Stelle vor; ursprünglich hatte er schon in der Vorrede des Werkes seinen ersten
Auftritt (vgl. NK 13, 11-16). Bei N. galt Pascal als exemplarisch konsequenter
Christ, der die intellektuelle Selbstaufopferung um des Heiles willen nicht ge-
scheut hatte, vgl. z. B. NK KSA 6, 94, 28-30 u. NK KSA 6, 171, 30-34, ferner
Donnellan 1982, 38-64 (wenig ergiebig ist Rehahn 2013). Interessant ist, dass
auch Alexandre Vinet in seinen maßgeblichen Etudes sur Blaise Pascal auf das
„intellektuelle Gewissen“ Pascals hinwies („Sa [sc. celle de Pascal] voix n’est
pas un echo, ou, si c’est un echo, c’est celui de la conscience, j’entends de la
conscience intellectuelle aussi bien que de la conscience morale.“ Vinet 1848,
104. „Seine [sc. Pascals] Stimme ist kein Echo, oder, wenn sie ein Echo ist,
ist sie das Echo des Gewissens, wohlverstanden des intellektuellen Gewinnens
ebenso wie des moralischen Gewissens.“) Freilich lässt sich nicht belegen,
dass N. Vinet gelesen hat; die scheinbare Paraphrase nach den Etudes sur
Blaise Pascal (Vinet 1848, 252) in NL 1880, KSA 9, 3[67], 65 ist in Wirklichkeit
eine sekundäre Adaption aus Hans Lassen Martensens Christlicher Ethik (Mar-
tensen 1871, 260, vgl. Orsucci 1996, 175, Fn. 57).
66, 9-12 Aber eine Neugierde meiner Art bleibt nun einmal das angenehmste
aller Laster, — Verzeihung! ich wollte sagen: die Liebe zur Wahrheit hat ihren
Lohn im Himmel und schon auf Erden. —] Der Witz dieser Passage besteht darin,
dass die bereits in 65, 16 als Triebkraft für die verwegenen Jagdanstrengungen
bemühte Neugierde im christlichen Kontext spätestens seit Augustinus unter
dem Namen der curiositas an der „concupiscentia oculorum“ („Begierde der
Augen“) teilhatte und als lasterhafte Hinwendung zum Irdischen statt zum
Göttlichen als eine der schlimmsten Sünden galt (Aurelius Augustinus: Confes-
siones V 3, 4 u. X, 33, 55). In der Neuzeit hat eine Umwertung und Positivierung
der Neugierde stattgefunden (vgl. Blumenberg 1973, zur Differenz von Blumen-
bergs und N.s Neuzeit-Verständnis Niehues-Pröbsting 2011, 195-199), so dass
die seit der klassischen griechischen Philosophie hochgeschätzte Wahrheitslie-
be (vgl. z. B. Platon: Politeia 382b-c u. Aristoteles: Nikomachische Ethik 1127a-
b) wieder mit der Neugierde zur Deckung hat gebracht werden können, weil
die zu liebende Wahrheit nicht mehr, wie im Christentum, mit Gott oder sonst
 
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