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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0337
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Stellenkommentar JGB 46, KSA 5, S. 66 317

Dem Widerstreit ging eine „Umwerthung aller antiken Werthe“ (67, 9 f.) bei
einigen Zurückgesetzten voraus, und der Widerstreit hatte weltgeschichtlich
eine allgemeine Umwertung zur Folge, als sich das Christentum durchsetzte.
„Umwerthung“ bedeutet hier eine „Kühnheit im Umkehren“ (67, 8), die sich
in der Formel „Gott am Kreuze“ (67, 6) verdichtet. Dieser „Umwerthung“ qua
Umkehrung sollte N. dann mit AC eine eigene „Umwerthung aller“, das heisst
genauer: der orientalisch-jüdisch-platonisch-christlichen „Werthe“ entgegen-
setzen. JGB 46 imitiert die Handlungsweise der Christen, indem der Abschnitt
wie einst das frühe Christentum wiederum alles umkehrt, was im abendländi-
schen Moralhaushalt als wahr, gut und heilig galt.
JGB 46 stellt das Christentum als Orientalismus dar, wobei nicht nur der
Entstehungsort in Palästina, sondern auch geschichtsphilosophische Vorurtei-
le in diese Charakterisierung einfließen. Hegel beispielsweise statuierte: „Der
Orient wusste und weiss nur, dass Einer frei ist, die griechische und römische
Welt, dass Einige frei seien, die germanische Welt weiss, dass Alle frei sind.“
(Hegel 1986,12, 134) Die Vorstellung vom „orientalischen Despotismus“ gehört
zum topischen Repertoire des geschichtsphilosophisch-geopolitischen Den-
kens im 19. Jahrhundert. Wenn nur einer frei ist, sind die anderen Sklaven -
und genau so, als Sklaven erscheinen die Orientalen und Christen in JGB 46
explizit. Die Pointe besteht darin, dass ausgerechnet das Christentum, das spe-
kulativ-universalistischen Geschichtsphilosophen als welthistorische Befrei-
ungsbewegung gegolten hat (vgl. Sommer 2006b), nun als Verkörperung skla-
vischer Instinkte herhalten muss und nach der hier gestellten Diagnose nicht
die Befreiung der Versklavten, sondern die Versklavung aller bewerkstelligt
hat.
Das Orientalische am frühen Christentum war zu N.s Zeit ein beliebtes
Forschungsfeld. Ernest Renan sprach von der „conquete de l’Occident par
l’Orient“ (Renan 1866, 284-286, vgl. Orsucci 1996, 299 f.; eine einschlägige Stel-
le aus Renan 1866 adaptierte N. in JGB 195, vgl. NK 116, 29-117, 9). Jacob Burck-
hardt schilderte drastisch das allmähliche (aber nicht nur christlich bedingte)
Überhandnehmen von orientalischen Vorstellungen im spätrömischen Reich
(Burckhardt 1880, 154-182 u. ö.), während N.s Freund Franz Overbeck notierte:
„Im Orient haben wir Abendländer stets uns nur holen können, was man zum
Sterben, nichts was man zum Leben braucht. Weisheit, um uns endgültig in
Allem zurecht- und mit Allem abzufinden, ist noch heute dort zu holen.“ (Over-
beckiana 1962, 2, 131; alles nach Sommer 1999, 197-200).
JGB 46 variiert sowohl beim orientalischen Charakter des eigentlichen
Christentums, beim Gegensatz zwischen der nordisch-bieder-oberflächlich-
protestantischen und der südlich-tieferen Christenheit als auch bei der Flucht-
richtung hin zur Französischen Revolution den Aphorismus 350 des beinahe
 
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