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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0344
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324 Jenseits von Gut und Böse

gen zum Verderb ausschlagen mußte, und endlich zu dem immer stärker sich
aussprechenden »Atheismus4 unserer Zeiten führen konnte, war der durch
Herrscherwuth eingegebene /216/ Gedanke der Zurückführung dieses Göttli-
chen am Kreuze auf den jüdischen »Schöpfer des Himmels und der Erde4, mit
welchem, als einem zornigen und strafenden Gotte, endlich mehr durchzuset-
zen schien, als mit dem sich selbst opfernden allliebenden Heiland der Armen.
Jener Gott wurde durch die Kunst gerichtet: der Jehova im feurigen Busche,
selbst auch der weißbärtige ehrwürdige Greis, welcher etwa als Vater segnend
auf seinen Sohn aus den Wolken herabblickte, wollte, auch von meisterhaftes-
ter Künstlerhand dargestellt, der gläubigen Seele nicht viel sagen; während
der leidende Gott am Kreuze, das »Haupt voll Blut und Wunden4, selbst in der
rohesten künstlerischen Wiedergebung, noch jeder Zeit uns mit schwärmeri-
scher Regung erfüllt.44 (Ebd., 215 f.) Wolzogen verwandelte nun diese Oppositi-
on entschlossen in religiösen Kitsch: „Hättet ihr das Kreuz von Golgatha im
Auge behalten, wie es immer mitten unter euch schwebte, vom heiligen Blute
erstrahlend, durch alles glänzende Weh, durch alle seufzende Lust der Welt, —
hättet ihr es im Auge behalten und euch in die Züge des leidenden Gottes ver-
senkt, hättet ihr selber, Gott gelitten1’ anstatt nur an den Werken euerer Bildung
zu wirken: ihr wüsstet, warum der Gott, der euch einst entsetzte, weil ihr von
ihm nur die scharfe Stimme der Gerechtigkeit vernehmen konntet, welche euch
die Schuld seiner Zulassung büssen liess, — ihr wüsstet, dass dieser Gott den-
noch der Gott der Liebe sei, der Gott am Kreuz, der Gott, der zu sich selber das
heilige Geheimniss des göttlichen Mitleidens flüstert: Vergieb ihnen, sie wissen
nicht, was sie thun! — und ihr würdet euch nicht mehr entsetzen vor dem Worte
der Vergebung.“ (Wolzogen 1883b, 115) Wolzogen trug also die bei Wagner nur
nebenher benutzte Wendung quasi als Monstranz seiner kunstchristlichen Mis-
sionierungsversuche voran. Er benutzte das paulinische „Ärgernis des Kreu-
zes“ als Mittel der Emotionalisierung und der Indoktrination - ein Mittel, des-
sen Wirkung Wagner so gut wie N. in der Spätantike beobachtet haben. „Hier
fliessen das Leiden und die Liebe, die höchsten Fähigkeiten der Menschensee-
le, in Eine göttliche Wirklichkeit, ja Körperlichkeit zusammen. Hier wird
das Bewusstsein zur Person, und das Leiden zur Erlösung. Hier hat das Gött-
liche selbst ein einziges niemals wiederkehrendes Mal in vollster, schönster
Naivetät das Menschliche ganz ohne jeden Rest durchdrungen und in dieser
Erscheinung allem Menschlichen den Weg zur Befreiung seines Göttlichen
von den peinlichen Erdenresten gezeigt. Dieser Weg geht durch den Tod, als
in das wahre ewige Leben, und auf diesem Wege schön zu sterben, dafür hat
uns der Gott am Kreuz das ewige Vorbild gegeben. Im Tode dieses Gottes lebt
das Göttliche unserer Art zu sieghaftester Kraft und höchster Würde auf. Erken-
nen wir wahrhaftig in ihm das Göttliche des Leidens, dann wird uns kein fal-
 
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