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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0349
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Stellenkommentar JGB 47, KSA 5, S. 67 329

Mensch ist nicht mehr seiner Vorstellungsbilder Herr, und diese tummeln sich
nach eigenen, halb logischen, halb associativen Gesetzen und mit der besonde-
ren Regellosigkeit, welche von den abnormen Körperzuständen ausgeht“ (Bau-
mann 1879, 250 f.).
Den Begriff „maskirte Epilepsie“ (68, 6), den N. beispielsweise in M 87, KSA
3, 82, 7 f. verwendete, übernahm er aus Henry Maudsleys Zurechnungsfähigkeit
der Geisteskranken, wie Moore 1998, 547 f. nachgewiesen hat: „Eine andere
Form von epileptischem Irrsinn, wobei manchmal ein Mord vorkommt, ist
die maskirte Epilepsie; die gewöhnlichen Convulsionen werden hier durch
eine Mania transitoria ersetzt. Die Affection der motorischen Centren entladet
sich nicht durch einen Paroxysmus von Convulsionen, sondern fixirt sich in
den Centren der geistigen Thätigkeit und entladet sich in einem maniakali-
schen Paroxysmus, der sozusagen einen epileptischen Anfall des Geistes dar-
stellt.“ (Maudsley 1875, 224) Krauss’ Psychologie des Verbrechers betonte
schließlich nicht nur die Nähe von „Hysterie“ und Epilepsie“, sondern auch
deren leichte Verwandelbarkeit in „chronisches Irresein“, zu dessen „gewöhn-
lichen Formen“ wiederum wesentlich „der religiöse Wahnsinn“ gehöre (Krauss
1884, 37). Vgl. zu diesem Komplex auch Moore 2000, 5-7. Im Unterschied zu
JGB 47 arbeitet JGB 189 den Sublimierungsnutzen asketischer Praktiken, na-
mentlich des Fastens heraus, vgl. NK 110, 21-30.
67, 28 religiöse Neurose] In dem in NK 67, 28-68, 6 zitierten Notat NL 1884,
KSA 11, 25[33], 20, 7-11 lässt sich bei N. der Ausdruck „religiöse Neurose“ erst-
mals nachweisen; er stammt jedoch nicht aus dem dort ausgebeuteten Werk
von Galton. Er kehrt wieder in NL 1885, KSA 12, 2[23], 76: „Lange nachgedacht
über jenen Ursprungsheerd der religiösen Genialität und folglich auch des »me-
taphysischen Bedürfnisses4, die »religiöse Neurose4; — unwillig eingedenk je-
nes in Frankreich berühmten und selbst sprichwörtlichen Ausdrucks, der so
viel über die »Gesundheit4 des französischen Geistes zu verstehen giebt: ,le ge-
rne est une neurose4.“ (In ungeschönter Form mit vielen Korrekturen in KGW
IX 5, W I 8, 236, 2-12.) Den Gedanken, dass das Genie von neurotischem Cha-
rakter sei, verfolgte N. im Spätwerk weiter (die Quellennachweise dazu in NK
KSA 6, 22, 33 u. NK KSA 6, 145, 25-28). Ein letztes Mal kommt die „religiöse
Neurose“ in GM III 21, KSA 5, 392, 10f. zu Wort: „die religiöse Neurose er-
scheint als eine Form des »bösen Wesens4“. Im späten 19. Jahrhundert war
,,[d]ie Bezeichnung Neurose [...] für alle Nervenkrankheiten] im Gebrauch, vor
allem für solche N[ervenkrankheiten], bei denen anatomische Veränderungen
nicht nachgewiesen werden können, welche wir demnach als funktionelle
N[ervenkrankheiten] anzusehen pflegen“ (Meyer 1885-1892, 12, 60). Während
sich die „religiöse Neurose“ im Deutschen vor N. nicht nachweisen lässt und
sie nach ihm von religionskritisch eingestellten Psychoanalytikern gerne auf-
 
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