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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0350
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330 Jenseits von Gut und Böse

gegriffen worden ist, kursierte sie unter französischen Intellektuellen, die sich
zur Gesellschaftsdiagnose gerne eines medizinischen Vokabulars bedienten,
durchaus schon früher. So benutzt sie der von N. geschätzte Alphonse Daudet
in seinem „Roman parisien“ L‘evangeliste von 1883 bereits mit großer Selbst-
verständlichkeit: „Nevrose religieuse ... dit Raverand dune voix grave ... C’est
Bouchereau qui soigne ga ...“ (Daudet 1883, 282. „Religiöse Neurose ... sagt
Raverand mit schwerer Stimme ... Es ist Boucherau, der sie pflegt ...“). Autoren
wie Jean-Martin Charcot und Charles Richet popularisierten psychiatrische Be-
griffe wie Hysterie und Neurose und machten sie als politisch-polemische
Werkzeuge nutzbar. In dieser Begriffsschwemme tauchte auch die „nevrose re-
ligieuse“ auf, und zwar zur Denunziation gemeinhin als vorbildlich erachteter
Frömmigkeitspraktiken. Wie intensiv diese Polemik geführt wurde, zeigt sich
beispielsweise an der Reaktion des Jesuitenpaters Joseph de Bonniot, der in
seinem Buch Le miracle et les Sciences medicales ausführt: „Les medecins, en
effet, considerent volontiers les pratiques de la vie chretienne comme les symp-
tömes dune nevrose, c’est-ä-dire dune maladie nerveuse. Semblable ä toutes
les maladies, cette nevrose revetirait une double forme, la forme aigue et la
forme chronique. La forme aigue serait constituee par certaines crises qui tran-
chent vivement sur le cours ordi-/265/naire de la vie; la forme chronique serait
plutöt une disposition generale dont les signes ont peu de relief, mais qui pre-
pare les grandes crises. Celles-ci ne differeraient pas des extases, et les extases
ne seraient qu’une forme aigue de la catalepsie et de l’hysterie. [...] Quant ä la
forme chronique de la nevrose religieuse, eile se confondrait avec l’hysterie
chronique. Car, suivant ces ecrivains, l’hysterie est ä l’etat endemique dans les
couvents, surtout dans ceux qui appartiennent aux ordres contemplatifs. Si
eile n’y produit pas toujours ses effets naturels, c’est-ä-dire de tristes ravages,
eile est toujours du moins prete ä eclater; c’est un incendie qui couve sous la
cendre.“ (Bonniot 1879, 264 f. „Die Ärzte betrachten tatsächlich gern die Prakti-
ken des christlichen Lebens als die Symptome einer Neurose, d. h. einer nervö-
sen Krankheit. Allen Krankheiten ähnlich, kleidete sich diese Neurose in einer
doppelten Form, einer akuten Form und einer chronische Form. Die akute
Form würde durch bestimmte Krisen konstituiert, die sich vom gewöhnlichen
/265/ Lauf des Lebens lebhaft abheben; die chronische Form wäre eher eine
allgemeine Disposition, deren Anzeichen wenig Relief haben, die aber die gro-
ßen Krisen vorbereitet. Diese unterschieden keine Ekstasen, und die Ekstasen
wären nur eine akute Form der Katalepsie und der Hysterie. [...] Was die chro-
nische Form der religiösen Neurose betrifft, vermischte sie sich mit der chroni-
schen Hysterie. Denn die Hysterie ist, gemäß diesen Autoren, der endemische
Zustand in den Klöstern, vor allem in denjenigen, die zu den kontemplativen
Orden gehören. Wenn sie da ihre natürlichen Wirkungen, das heißt traurige
 
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