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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0369
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Stellenkommentar JGB 53, KSA 5, S. 72-73 349

Elend; Gott, das ist das Böse. So lange die Menschheit sich vor einem Altäre
beugen wird, wird sie als Sklavin der Könige und Priester verworfen sein“
(Proudhon 1847, 1, 383). Alsbald richtete sich Proudhons Zorn, der 1888 in
N.s AC einen würdigen Nachfolger finden sollte, gegen den im Namen Gottes
formulierten Herrschaftsanspruch und gegen dessen „Attribute“: „Ich leugne
also die Oberherrschaft Gottes über die Menschheit; ich verwerfe seine provi-
denzielle Regierung, deren Nichtexistenz durch die metaphysischen und öko-
nomischen Fieberträume der Menschheit, durch das Märtyrthum unserer Gat-
tung hinläng-/384/lich bewiesen ist; ich lehne die Gerichtsbarkeit des höchs-
ten Wesens über den Menschen ab; ich nehme ihm seine Titel: Vater, König,
Richter, [...], Belohner und Bestrafer. Alle diese Attribute, aus denen die
Idee der Vorsehung zusammengesetzt ist, sind nur eine Karrikatur auf die
Menschheit, unvereinbar mit der Autonomie der Zivilisazion, und außerdem
durch die Geschichte ihrer Nennungen und ihrer Katastrophen Lügen ge-
straft“ (ebd., 383 f.).
Dass der „Theismus“ als Glaube an den einen persönlichen Gott im Nieder-
gang begriffen sei, deutet sich auch in einem Gliederungsplan NL 1884/85, KSA
11, 31[10], 14 f. an, was N. aber nicht davon abhielt, das sprechende Ich einer
späten Nachlass-Kurzabhandlung „Zur Geschichte des Gottesbe-
griffs“ (NL 1888, KSA 13,17[4], 523, If.) wie folgt spekulieren zu lassen: „viele
neue Götter sind noch möglich! ... Mir selber, in dem der religiöse, das heißt
gottbildende Instinkt mitunter wieder lebendig werden will: wie anders, wie
verschieden hat sich mir jedes Mal das Göttliche offenbart! ...“ (KSA 13, 525,
31-526, 2) N. hat die Aufzeichnung 17[4] für AC 16-19 benutzt, jedoch gerade
den Abschnitt weggelassen, der den „religiösen“, „gottbildenden Instinkt“
beschwört (vgl. NK KSA 6, 182, 9-185, 29). Dass es bei N. tatsächlich eine Opti-
on für einen Gott „jenseits von gut und böse“ gibt, deutet sich auch in man-
chen Nachlasstexten an (vgl. NL 1882, KSA 10, 3[1]432, 105, 15-17). Indessen
fällt auf, dass er es in seinen veröffentlichten Werken diesbezüglich bei dunk-
len Andeutungen sein Bewenden haben ließ - „ist er unklar?“ (72, 30. Vgl.
NK 6/2, S. 108).
JGB 53 prophezeit denn auch nicht das Kommen (oder die durch „gottbil-
dende“ Kraft zu Wege gebrachte Erfindung) eines anderen, außermoralischen
Gottes, sondern nur das „Wachsen“ des ,,religiöse[n] Instinkt[s]“ (73, If.) - of-
fenbar gerade aus dem vom christlichen Gott hinterlassenen Vakuum. Eine
„theistische Befriedigung“ dieses Instinkts stoße hingegen auf „tiefe[s] Miss-
trauen“ (73, 2f.), so dass vermutlich auch Dionysos als Befriediger nicht in die
Kränze kommen wird, sondern sich eine gottlose Religion (vielleicht analog
zum Buddhismus) im Abendland abzeichnen könnte. Der Begriff des „religiö-
sen Instinkts“, den N. ja auch in NL 1888, KSA 13,17[4], 525, 31 f. bemühte, war
 
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