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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0370
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350 Jenseits von Gut und Böse

in der zeitgenössischen Literatur weit verbreitet. Gerne wurde dabei - so etwa
in der N. aus der Basler Zeit wohlvertrauten (Crescenzi 1994, 406) Griechischen
Götterlehre von Friedrich Gottlieb Weicker - auf Äußerungen Schellings ver-
wiesen: „,der religiöse Instinct ist, wie Schelling in seinem unlängst erschiene-
nen Werke sagt, auch in unklaren und verworrenen Geheimnissen zu ehren“4
(Weicker 1857, 1, 255; Schelling nutzte den Begriff des „religiösen Instinkts“ in
seiner Einleitung in die Philosophie der Mythologie, siehe Schelling 1856, 75-
78). Insbesondere religionshistorische Bücher handelten von „religiösem In-
stinct“ - so unter denjenigen, die sich in N.s Bibliothek erhalten haben, Her-
mann Reuter in seiner Geschichte der religiösen Aufklärung im Mittelalter (Reu-
ter 1875, 1, 244 zu Bernhard von Clairvaux) sowie Lecky in seiner Sittenge-
schichte Europas (Lecky 1879, 1, 62: „Seit achtzehn Jahrhunderten erkennt der
religiöse Instinct der Christenheit sein Ideal in der Gestalt eines »leidenden
Menschen4.“). Aber auch Philosophen wie Bahnsen in seinem Werk Der Wider-
spruch im Wissen und Wesen der Welt arbeiteten sich an ihm ab: „In der That
gibt schon gleich der erste Überblick den Eindruck, dass der religiöse Instinkt
seinem innersten Zuge nach sich in antirealdialektischer Richtung bewege. Es
ist die Angst des Daseins, woran er seine Quelle hat, jener timor, von welchem
schon die Alten wussten, qui primus fecit deos in orbe. Und doch ist es hinwie-
derum grade erst die Realdialektik, welche ihn in der ganzen Energie und In-
tensität seiner Bethätigungen zu begreifen vermag, weil sie selber es ist, gegen
deren Wahrheiten er sich auflehnt.“ (Bahnsen 1882, 2, 408) So viel dialektische
Mühe investiert JGB 53 nicht in den „religiösen Instinkt“: er bleibt unexpliziert,
„unklar“.
Zur Interpretation von JGB 53 siehe auch Müller-Lauter 1971, 151 f.; Figl
2000, 101 u. Figl 2007, 311. Heidegger 1989, 1, 286 zog aus JGB 53 den Schluss:
„Der »moralische4 Gott, der christliche Gott ist tot; der ,Vater4, zu dem man sich
rettet, die »Persönlichkeit4, mit der man verhandelt und sich ausspricht, der
»Richter4, mit dem man rechtet, der »Belohner4, durch den man sich für seine
Tugenden bezahlen läßt, jener Gott, mit dem man seine »Geschäfte4 macht -
wo aber läßt sich eine Mutter für ihre Liebe zum Kind bezahlen? Der »mora-
lisch4 gesehene Gott und nur dieser ist gemeint, wenn Nietzsche sagt: »Gott ist
tot.4“ Abgesehen davon, dass Heideggers nicht weiter gerechtfertigte Kontami-
nation von JGB 53 und FW 125 hermeneutisch mindestens problematisch ist,
fokussiert gerade JGB 53 keineswegs ausschließlich den „»moralisch4 gesehe-
nen Gott“, sondern legt den Hauptakzent auf die Frage, wie Gott sich über-
haupt mitteilen kann. Die Stelle ist ein typisches Beispiel dafür, wie Heidegger
N. seinen eigenen philosophischen „Geschäften“ dienstbar macht und in sein
„Gestell“ stellt.
 
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