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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0371
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Stellenkommentar JGB 54, KSA 5, S. 73 351

54.
Eine Vorarbeit zu JGB 54 findet sich - noch ohne expliziten Bezug auf Des-
cartes - in NL 1885, KSA 11, 40[16], 635 f. (entspricht KGW IX 4, W I 7, 71);
thematisch ist die Nähe zu JGB 17 und JGB 34 offenkundig.
73, 5-22 Was thut denn im Grunde die ganze neuere Philosophie? Seit Des-
cartes — und zwar mehr aus Trotz gegen ihn, als auf Grund seines Vorgangs —
macht man seitens aller Philosophen ein Attentat auf den alten Seelen-Begriff,
unter dem Anschein einer Kritik des Subjekt- und Prädikat-Begriffs — das heisst:
ein Attentat auf die Grundvoraussetzung der christlichen Lehre. Die neuere Philo-
sophie, als eine erkenntnisstheoretische Skepsis, ist, versteckt oder offen, anti-
christlich: obschon, für feinere Ohren gesagt, keineswegs antireligiös. Ehe-
mals nämlich glaubte man an „die Seele“, wie man an die Grammatik und das
grammatische Subjekt glaubte: man sagte, „Ich“ ist Bedingung, „denke“ ist Prä-
dikat und bedingt — Denken ist eine Thätigkeit, zu der ein Subjekt als Ursache
gedacht werden muss. Nun versuchte man, mit einer bewunderungswürdigen
Zähigkeit und List, ob man nicht aus diesem Netze heraus könne, — ob nicht
vielleicht das Umgekehrte wahr sei: „denke“ Bedingung, „Ich“ bedingt; „Ich“
also erst eine Synthese, welche durch das Denken selbst gemacht wird.] NL
1885, KSA 11, 40[20], 637, 3-12 (entspricht KGW IX 4, W I 7, 68, 6-18) argumen-
tiert: „Abgesehn von den Gouvernanten, welche auch heute noch an die Gram-
matik als veritas aeterna und folglich als Subjekt Prädikat und Objekt glauben,
ist Niemand heute mehr so unschuldig, noch in der Art des Descartes das Sub-
jekt »ich4 als Bedingung von ,denke4 zu setzen; vielmehr ist durch die skepti-
sche Bewegung der neueren Philosophie die Umkehrung, nämlich das Denken
als Ursache und Bedingung sowohl von ,Subjekt4 wie von ,Objekt4, wie von
»Substanz4 wie von »Materie4 anzunehmen - uns glaubwürdiger geworden: was
vielleicht nur die umgekehrte Art des Irrthums ist.44 Während die „Gouvernan-
ten“ zu Beginn des Zitats auf Dührings Werth des Lebens anspielen (siehe NK
54, 3-11; über Descartes hat sich N. ausweislich seiner Lesespuren auch bei
Dühring 1873, 271-277 kundig gemacht), konnte Loukidelis 2006c, 305 f. plausi-
bel machen, dass sich die philosophiehistorische Linienführung sowohl dieser
Aufzeichnung als auch von JGB 54 N.s Lektüre von Paul Heinrich Widemanns
Erkennen und Sein verdankt. Dort heißt es: „In der Cartesianischen Formel:
cogito ergo sum, von welcher der Idealismus angeblich ausgeht, sind Erkennen
und Sein im Subject, worin sie vereinigt sind, weislich auseinander gehalten.
Diese Zweiheit aber hat die idealistische Philosophie völlig übersehen; ihr Satz
ist in Wahrheit nicht: ich denke, folglich bin ich, sondern: ich denke, folglich
bin ich nicht; denn sie richtet das »Denke4 selbst gegen das »Ich4, das
Subject des Denkens und macht damit diese nothwendige Bedingung jenes
 
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