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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0372
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352 Jenseits von Gut und Böse

Prädicats zu dessen eigenem Product, sodaß natürlich mit dem Ich, der Bedin-
gung des Prädicats ,denke4, auch dieses letztere aufgehoben wird. / Mag
auch Mancherlei am empirischen Subject durch das Erkennen bedingt sein:
das Subject selbst kann davon nie betroffen werden, weil es die erste und
hauptsächlichste Bedingung des Selbstbewusstseins ist. Dieses ist Prädicat;
das Ich ist Subject dieses Prädicats, Träger und Grundlage des Selbstbewußt-
seins und muß seinem Dasein nach als gänzlich unabhängig vom Erken-
nen, folglich als real gedacht werden. [...] Dieß Alles haben Kant und Schopen-
hauer nicht beachtet“ (Widemann 1885, 5).
In seiner Kritik am Idealismus Kantischer und Schopenhauerscher Prä-
gung, den er für selbstwidersprüchlich hält, beharrte Widemann auf dem Sub-
jekt als dem eigentlich Realen. Dabei diente ihm Descartes als Gewährsmann
gegen die Auflösung des Subjekts als einem selbst Bedingten bei Kant und
Schopenhauer. Bei N. hingegen wird dieses Subjekt qua Realwesen als eine der
Grammatik geschuldete Vorspiegelung verdächtigt, so dass Widemann für ihn
in die Gruppe derjenigen gehört haben müsste, die sich noch nicht von den
metaphysischen Illusionen lösen konnten, die „ehemals“ geglaubt wurden
(vgl. 73, 13-17). Vollkommen fehlt bei Widemann (aber auch bei Teichmüller
1882 als einer weiteren einschlägigen Lektüre, vgl. Gasser 1997, 692 f.) die für
JGB 54 zentrale religionskritische Komponente: Der Angriff auf den Subjektbe-
griff vernichtet jenes Subjekt, jenes vereinzelte Individuum mit seiner Heilsbe-
dürftigkeit und seinem Anspruch auf Ewigkeit und Unsterblichkeit, wie das
Christentum es darstellt und braucht. Das Christentum hat der bei N. artikulier-
ten Diagnose zufolge eine Aufwertung des individuellen Lebens mit sich ge-
bracht, die eine allgemeine Demokratisierung und Egalisierung nach sich zog:
Jetzt konnte jedes nichtswürdige Menschlein auf persönliches Seelenheil aspi-
rieren. Wenn die Philosophie - und hier zeigt sich, dass N. sich Widemanns
nur als eines Mittels bediente, aber beileibe nicht, um seine Intention zu stüt-
zen - das Subjekt als Täter, damit als Sünder und als Zu-Rechtfertigenden,
vernichtet, wird damit unter der Hand eine dezidiert antichristliche Attacke
vollführt. Diese Attacke muss aber, mahnt JGB 54 ausdrücklich, „keineswegs
antireligiös“ (73, 13) verstanden werden, denn für Religion in einem weiten
Sinn, wie etwa im Vedanta, der in 73, 26 genannt wird, ist das Subjekt oder
Individuum keineswegs zwangsläufig letzte Referenzgröße.
73,13-15 Ehemals nämlich glaubte man an ,die Seele‘, wie man an die Gramma-
tik und das grammatische Subjekt glaubte] Vgl. NK 11, 16-12, 3.
73, 22-28 Kant wollte im Grunde beweisen, dass vom Subjekt aus das Subjekt
nicht bewiesen werden könne, — das Objekt auch nicht: die Möglichkeit einer
 
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