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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0373
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Stellenkommentar JGB 55, KSA 5, S. 73-74 3 53

Scheinexistenz des Subjekts, also „der Seele“, mag ihm nicht immer fremd
gewesen sein, jener Gedanke, welcher als Vedanta-Philosophie schon einmal und
in ungeheurer Macht auf Erden dagewesen ist.] Vgl. NK 12, 12-14. Die Vorrede
von JGB insinuiert im Anschluss an Romundt 1885 gerade, der Vedanta - also
die aus dem Hinduismus erwachsene, klassische indische Philosophie - hul-
dige auch dem Irrtum einer distinkten Subjekt- oder Seelensubstanz. Wenn
JGB 54 das Gegenteil behauptet und den Vedanta für die Kritik an diesem Irr-
tum in Anspruch nimmt, ist N. hier nicht nur näher an den Quellen, sondern
es zeigt sich daran vor allem, dass die Bezugnahme auf (philosophie-)ge-
schichtliche Daten von der jeweiligen Argumentationssituation und dem jewei-
ligen Interesse bestimmt wird, so dass dasselbe gelegentlich für Entgegenge-
setztes stehen kann.
In der Vorarbeit NL 1885, KSA 11, 40[16], 636, 6-10 (entspricht KGW IX 4,
W I 7, 71, 14-17) heißt es am Schluss: „Die Möglichkeit einer Scheinexis-
tenz des ,Subjekts4 dämmert: ein Gedanke, welcher, wie in der Vedanta-Philo-
sophie, schon einmal auf Erden dagewesen ist. Will man einen neuen, wenn-
gleich sehr vorläufigen Ausdruck dafür, so lese man (die Geburt der Tragödie}“
(vgl. KGW VII4/2, 487). Das spielt wohl an auf das an Schopenhauer orientierte
„Zerbrechen des principii individuationis“ (GT 1, KSA 1, 28, 30). Den Begriff
der „Scheinexistenz“ konnte N. im Buch Das System des Vedanta seines Freun-
des Paul Deussen finden: Die Götter seien im Vedanta „ebenso real, wie die
übrige Welt: die Scheinexistenz, welche diese letztere hat, kommt auch ihnen
zu“ (Deussen 1883, 68).
73, 25 des Subjekts] In seinem Handexemplar hat N. diese Stelle in der Erstaus-
gabe (Nietzsche 1886, 72) korrigiert in: „des Einzel-Subjekts“ (Anna Amalia
Bibliothek, Weimar, Signatur C 4619). Diese Korrektur ist in KGW und KSA
nicht ausgewiesen.

55.
74, 2 f. Es giebt eine grosse Leiter der religiösen Grausamkeit, mit vielen Spros-
sen; aber drei davon sind die wichtigsten.] Die Assoziation von Religion und
Grausamkeit ist ein Leitmotiv in N.s gesamtem Werk, das schon in seiner Faszi-
nation durch Dionysos und dessen Kult in der philosophischen Erstlingsschrift
Die Geburt der Tragödie greifbar ist (vgl. Meyer 2015). In seinen Freigeist-Schrif-
ten wird gelegentlich in aufklärerischer Emphase zwar die Grausamkeit der
monotheistischen Religionen beklagt („Oh, wie viel überflüssige Grausamkeit
und Thierquälerei ist von jenen Religionen ausgegangen, welche die Sünde
erfunden haben!“ - M 53, KSA 3, 57, 5-7). Zugleich aber wird im religiös evo-
 
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