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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0376
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356 Jenseits von Gut und Böse

in die Welt“ geschlichen habe, „dass das freiwillige Leiden, die selbster-
wählte Marter einen guten Sinn und Werth habe“ (KSA 3, 30, 18-21). Hierin
folgt der Text ebenso wie bei der archaischen Vorstellung grausamer Götter in
JGB (vgl. NK 74, 3-8) dem ethnographischen Befund in Spencers Thatsachen
der Ethik: „Und ohne dass wir uns bei Fasten und Büssungen aufzuhalten
brauchen, wird es klar genug sein, dass auch bei den christlichen Völkern der
Glaube existirt hat und noch existirt, dass die Gottheit, welche Jephtah durch
Aufopferung seiner Tochter zu versöhnen glaubte, durch selbst auferlegte Lei-
den versöhnt werden könne. [...] In unsern Tagen freilich haben solche Ansich-
ten zweifellos mildere Formen angenommen. Die Befriedigung, welche die
grau-/32/samen Götter beim Anschauen von Qualen empfinden sollten, hat
sich grösstentheils in eine Befriedigung verwandelt, welche die Gottheit beim
Anschauen jener selbstauferlegten Schmerzen empfinden soll, die, wie man
glaubt, die zu erwartende Glückseligkeit fördern werden. [...] Beschränken wir
uns auf diese Classe — nehmen wir an, dass von dem Wilden, welcher seine
Opfer einem cannibalischen Gotte hinschlachtet, auch unter den Civilisirten
noch Abkömmlinge vorhanden sind, die glauben, das Menschengeschlecht sei
zum Leiden geschaffen und es sei daher ihre Pflicht, zur Freude ihres Schöp-
fers das Leben im Elend fortzusetzen — so können wir einfach die Thatsache
constatiren, dass die Teufelanbeter noch nicht ausgestorben sind.“ (Spencer
1879, 31 f. N. verweist unter dem Stichwort „Teufelsanbetung“ auf diese Stelle
ausdrücklich in NL 1880, KSA 9, 1[17], 11, 9).
74, 12-21 Endlich: was blieb noch übrig zu opfern? Musste man nicht endlich
einmal alles Tröstliche, Heilige, Heilende, alle Hoffnung, allen Glauben an ver-
borgene Harmonie, an zukünftige Seligkeiten und Gerechtigkeiten opfern? musste
man nicht Gott selber opfern und, aus Grausamkeit gegen sich, den Stein, die
Dummheit, die Schwere, das Schicksal, das Nichts anbeten? Für das Nichts Gott
opfern — dieses paradoxe Mysterium der letzten Grausamkeit blieb dem Ge-
schlechte, welches jetzt eben herauf kommt, aufgespart: wir Alle kennen schon
etwas davon. —] JGB 55 belässt es nicht beim historisch-ethnographischen Be-
fund, der wohlwollend-humanistischen Interpretationen religiöser Verzichts-
praktiken zuwiderläuft und die Tugenden der Selbstzurücknahme als atavisti-
sche Anpassungen an ein überlebtes Gottesbild der Lächerlichkeit preisgibt.
Vielmehr wird aus diesem historisch-ethnographischen Befund eine Ge-
schichtsprophetie abgeleitet, nämlich der Ausblick auf eine dritte Stufe der Op-
ferung, auf der nun - etwa kraft der Diagnose seines Todes (vgl. FW 125) -
Gott selbst und mit ihm alles „Tröstliche“ geopfert werde. 74, 12-21 suggeriert
durch die Verwendung des Imperfekts zunächst, auch die dritte Stufe der Ent-
wicklung, die allgemeine Opferung Gottes und alles metaphysischen Trostes
sei bereits vollzogen und liege in der Vergangenheit. Erst der Schluss macht
 
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