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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0383
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Stellenkommentar JGB 58, KSA 5, S. 74-75 363

hauptet, wo Einwände gegen eine unkritische Präferenz für die reine Theorie
auf einen religionskritischen Impuls zurückgeführt werden. M 88 (KSA 3, 82 f.)
wiederum verstand - vor dem Hintergrund von Baumann 1879, 379 f. - Luthers
reformatorisches Aufbegehren gerade als Reaktion „seine[r] angeborene[n] ,Ac-
tivität1 in Seele und Leib“ (KSA 3, 82, 24 f.) auf die mönchische Bevorzugung
eines beschaulichen, müßigen Lebens. JGB 58 nimmt diese Überlegungen auf,
generalisiert sie, widmet sie jedoch zu einem Argument zugunsten des „religiö-
sen Leben[s]“ (KSA 5, 75, 26 f.) um, das als etwas ausnehmend Aristokratisches
erscheinen soll. Dass gerade die Protestanten in ihrer Arbeitsamkeit keinen
Sinn für den vornehm-beschaulichen Müßiggang hätten, wird in KSA 5, 76, 30
wiederholt. Auch hier stammt das Material ursprünglich aus Baumanns Hand-
buch der Moral: „Katholische und protestantische Moral haben tiefe Differen-
zen. Nach der katholischen Moral ist das contemplative, d. h. der Betrachtung
göttlicher Dinge unmittelbar gewidmete Leben höher als das active.“ (Bau-
mann 1879, 377) JGB 58 findet nun überall in der Moderne schiere Arbeitswut
am Werk, die sämtliche Muße ersticke, weswegen die Heutigen - egal ob Arbei-
ter, Kaufleute oder Gelehrte - jedes Verständnis für Religion als eigentlich kon-
templative Obliegenheit vermissen ließen. JGB operiert mit einer Generalisie-
rung, die die entsprechenden Passagen aus M noch nicht derart weit getrieben
haben, dass Religion überhaupt - und nicht nur bestimmte Formen von Religi-
on - die Muße zur notwendigen Voraussetzung hätte. JGB 58 scheint auf eine
mit religionshistorischen und religionssoziologischen Mitteln angestrengte
Rechtfertigung des „religiösen Lebens“ angesichts des ihm in der Moderne ent-
gegenschlagenden Unverständnisses hinauszulaufen. Die Suggestion liegt in
der weder historisch noch begrifflich zwingenden Verbindung von Muße/Mü-
ßiggang und Aristokratie/Vornehmheit, die gegen die von N. andernorts er-
probte Behauptung steht, das Christentum sei eine Sache des Pöbels (vgl. z. B.
NK 12, 33 f.). Diese Suggestion nähert das Leben der religiösen Menschen,
sprich: der katholischen Kleriker und besonders der Mönche, dem privilegier-
ten Leben des Geburtsadels an. Dem vermeintlichen Argument zugunsten reli-
giöser Lebensführung scheinen freilich zwei Intentionen zugrunde zu liegen,
deren Zweck keineswegs die Verteidigung der Religion an sich oder des religiö-
sen Lebens ist. Zwar hält JGB 58 den rastlos aktiven Gegenwartsmenschen vor,
sie wüssten gar nicht mehr, „wozu Religionen nütze sind“ (76, 12), der Text
gibt aber selbst auch keinerlei Auskunft darüber, worin dieser Nutzen liegen
könne - ganz abgesehen davon, dass die Frage nach dem Nutzen höchst un-
vornehm wirkt, geprägt von einer Weitsicht, die dem Tun vor dem Schauen
völlige Priorität einräumt. Die erste Intention, die das vermeintliche Argument
zugunsten der Religion grundiert, ist die Rechtfertigung der kontemplativen
Lebensform als solcher, weil auch die Philosophen der Zukunft trotz der akti-
 
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