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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0384
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364 Jenseits von Gut und Böse

vistischen Rolle, die ihnen bei N. gelegentlich zugemutet wird (Gesetzgeber,
Umwerter u. ä.), wie ihre Vorgänger der letzten zweieinhalb Jahrtausende auf
die Muße angewiesen sind und also wesentlich ein kontemplatives Leben fris-
ten werden. Die zweite Intention ist die Diskreditierung der in der Gegenwart
vorherrschenden aktivistischen Lebensform, die sich nach JGB 58 in allen Be-
reichen findet, selbst da, wo eigentlich ein anderes Ideal herrschen sollte: bei
den Wissenschaftlern und Gelehrten.
Es gehört zu den Ironien der Denkgeschichte, dass die von N. in strate-
gisch-modernitätskritischer Absicht so stark gemachte Verbindung von Religi-
on und Muße vom katholisch-konservativen Philosophen Josef Pieper in christ-
lich-apologetischer Absicht wieder aufgegriffen wurde - statt unter Berufung
auf Nietzsche (der mit keinem Wort erwähnt wird) unter der Schirmherrschaft
des Thomas von Aquin (Muße und Kult, 1948, vgl. kritisch dazu Riedl 2015, 71
u. ö.).
75, 26-76, 3 Hat man wohl beachtet, in wiefern zu einem eigentlich religiösen
Leben (und sowohl zu seiner mikroskopischen Lieblings-Arbeit der Selbstprüfung,
als zu jener zarten Gelassenheit, welche sich „Gebet“ nennt und eine beständige
Bereitschaft für das „Kommen Gottes“ ist) der äussere Müssiggang oder Halb-
Müssiggang noth thut, ich meine der Müssiggang mit gutem Gewissen, von Alters
her, von Geblüt, dem das Aristokraten-Gefühl nicht ganz fremd ist, dass Arbeit
schändet] Das „Aristokraten-Gefühl“, auf das die Exposition des Themas zu
Beginn von JGB 58 zusteuert - und eigentlich bringt das auf die Exposition
Folgende vor allem sarkastische Anschauungsbeispiele - ist die Umkehrung
eines alten Sprichworts, das lautet: „Arbeit schändet nicht“ (Wander 1867-
1880, 1, 117). Es geht zurück auf Vers 311 von Hesiods Werken und Tagen:
„cpyov ö’ oüöev öveiöoc;, äspyiq öe t’ öveiöoc;“, den Johann Heinrich Voß so
übersetzt: „Arbeit schändet mitnichten, nur Arbeitlosigkeit schändet.“ (Hesiod
1817, 22) In dem von N. rege benutzten und annotierten Hesiod-Kommentar von
August Steitz werden die Verse 310-311 als von einem „höchst ungeschickten
Interpolator“ herrührend verworfen (Steitz 1869, 103).
Gegen diese Hochschätzung der körperlichen Arbeit, die der archaische
Dichter und Ackerbauer beschwört, steht die Haltung der vornehmen Griechen,
die N. offensichtlich in Wilhelm Onckens Staatslehre des Aristoteles in histo-
risch-politischen Umrissen dargestellt fand. Sie hat sich unter seinen Büchern
erhalten; N. hat sie auch für seine Basler Lehrveranstaltungen verwendet (vgl.
Guarde-Paz 2013). Dort ist zu lesen: Aristoteles „kommt noch öfter auf diese
sociale Angelegenheit zurück und am sichersten müssten wir erwarten bei der
Erörterung der Sklaverei die rechte Lösung zu vernehmen. Aber sie wird
nicht gefunden und sie kann auch nicht gefunden werden, solange die Staats-
lehre das aristokratische Grundgesetz des hellenischen Lebens unterschreibt,
 
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