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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0386
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366 Jenseits von Gut und Böse

Spitze gegen die angeblich oberflächliche französische »Zivilisation4. JGB 59
versucht sich in einer Positivierung der Oberflächlichkeit, die auf deren exis-
tenziellen Nutzen abhebt - einen Nutzen, der auch schon dem Apollinischen
innewohnte, denn ohne Formgebung auf der Oberfläche wäre das Griechentum
nicht lebensfähig gewesen. Auch der Ausnahmemensch kann aus Oberfläch-
lichkeit Gewinn ziehen - vgl. die in NK 58, 18-28 mitgeteilten Nachlassauf-
zeichnungen. JGB 59 zufolge sind „Philosoph“ und „Künstler“ von akuter Auf-
lösung bedroht, wenn sie sich „unter“ die Oberfläche wagen.
Beispielsweise bei dem von N. unter die „modernen Pessimisten“
einsortierten Philipp Mainländer (KGW IX 8, W II5, 5, 44 u. 52) findet sich (vor
dem Hintergrund Schopenhauers) die Unterscheidung zwischen dem „erken-
nende[n] Subjekt“, das sich „im gewöhnlichen Leben, der Außenwelt anbeque-
men“ muss, und dem „Künstler“: „Sein Geist ist nicht der Sklave der Außen-
welt, sondern erschafft eine neue Welt: eine Welt der Grazie, der reinen For-
men“ (Mainländer 1876, 145). „In der Bildnerkunst handelt es sich [...] um die
Darstellung von Ideen in reinen Formen.“ (Ebd., 150) N. hat sich auch in seinen
letzten Schaffensjahren gelegentlich mit dem „süsslichen Virginitäts-Apostel
Mainländer“ (FW 357, KSA 3, 601, 34-602, 1) beschäftigt (vgl. z. B. NK KSA 6,
290, 7-10 u. N.s Brief an Overbeck, 02. 07.1885, KSB 7/KGBIII/3, Nr. 609, S. 61).
Zwar ist von „reinen Formen“ auch in der zeitgenössischen kunstwissenschaft-
lichen Literatur gelegentlich die Rede, aber der Weltverleugnungs- und Welt-
verneinungsverdacht, den JGB 59 gegen die Künstler mit ihrem Oberflächen-
kult vorbringt und der darin gipfelt, „die homines religiosi mit unter die Künst-
ler [zu] rechnen, als ihren höchsten Rang“ (KSA 5, 78, 16-18), markiert
deutlich den Anschluss an den bei Mainländer exemplarisch veranschaulich-
ten, pessimistischen Kunst-,Diskurs4. Die „tiefe argwöhnische Furcht vor einem
unheilbaren Pessimismus“ (78, 18 f.) wird gleich anschließend ausdrücklich
thematisiert. Die Stoßrichtung ist klar: Während es die Künstler bisher als ver-
kappte Pessimisten und schwache Nihilisten im Willen „zur Unwahrheit um
jeden Preis“ (78, 28) auf die Verschleierung der als unerträglich empfundenen
Wirklichkeit abgesehen hatten, sollten künftige Künstler „stark genug, hart ge-
nug, Künstler genug geworden“ (78, 22 f.) sein, auf solche Lügen zu verzichten
und eine ungeschönte Wirklichkeit zu bejahen (vgl. demgegenüber FW Vorrede
4, dazu Kaufmann 2016).
Zur literarischen Rezeption des „Cultus der Oberfläche“ namentlich bei
Thomas Mann vgl. Hillebrand 1978, 112 f.
78,16 f. homines religiosi] Vgl. NK 65, 4-25 u. NK 78, 2-16.
78, 21-23 dass man der Wahrheit zu früh habhaft werden könnte, ehe der
Mensch stark genug, hart genug, Künstler genug geworden ist] In der KSA 14,
 
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