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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0393
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Stellenkommentar JGB 61, KSA 5, S. 80 373

80, 12-24 Inzwischen giebt die Religion auch einem Theile der Beherrschten
Anleitung und Gelegenheit, sich auf einstmaliges Herrschen und Befehlen vorzu-
bereiten, jenen langsam heraufkommenden Klassen und Ständen nämlich, in de-
nen, durch glückliche Ehesitten, die Kraft und Lust des Willens, der Wille zur
Selbstbeherrschung, immer im Steigen ist: — ihnen bietet die Religion Anstösse
und Versuchungen genug, die Wege zur höheren Geistigkeit zu gehen, die Gefühle
der grossen Selbstüberwindung, des Schweigens und der Einsamkeit zu erpro-
ben: — Asketismus und Puritanismus sind fast unentbehrliche Erziehungs- und
Veredelungsmittel, wenn eine Rasse über ihre Herkunft aus dem Pöbel Herr wer-
den will und sich zur einstmaligen Herrschaft emporarbeitet.] Über die calvinisti-
sche Reformbewegung des Puritanismus im 16. und 17. Jahrhundert mit ihren
stark asketischen Neigungen bei gleichzeitiger Welt- und Geschäftstüchtigkeit
hat N. zunächst Auskünfte aus Leckys Geschichte des Ursprungs und Einflusses
der Aufklärung bezogen: „Sobald als der Puritanismus die Gewalt im Lande
erlangte, sobald es seinen Geistlichen glückte, ihre düsteren Lehrsätze den
herrschenden Klassen beizubringen, nahm der Aberglaube eine riesenhafte
Grösse an.“ (Lecky 1873, 1, 82. N.s Unterstreichungen, dreifache Randanstrei-
chung von seiner Hand.) Eine Marginalie N.s zum folgenden Satz hat der Buch-
binder leider zur Hälfte abgeschnitten: „Es war einfach das Ergebniss der auf
das Gemüth wirkenden puritanischen Lehre, welche die Menschen geneigt
machte, satanischen Einfluss im Leben zu sehen und folglich die Erscheinun-
gen der Hexerei an den Tag zu bringen.“ (Ebd., 83) Aber auch Leckys positive
Urteile nahm N. sehr wohl zur Kenntnis, wenn er am Rand mehrfach die Aussa-
ge markierte: „dem Puritanismus haben wir vorzüglich die Thatsache zu dan-
ken, dass in England Religion und Freiheit unzertrennlich blieben; inmitten
aller Schwankungen seines Geschickes repräsentirte er fort und fort die Verei-
nigung dieser beiden Principien, welche die herrschende Kirche fortwährend
für unvereinbar mit einander erklärte“ (ebd., 2, 138).
Während N. in keinem anderen seiner publizierten Werke jemals einen
Ausdruck aus dem Wortfeld des Puritanismus benutzte, tauchen solche Aus-
drücke in fenseits von Gut und Böse gehäuft auf (JGB 10, KSA 5, 23, 8; JGB 188,
KSA 5,108, 8; JGB 216, KSA 5,152, 29 f.; JGB 228, KSA 5,164,18 u. 20 u. JGB 229,
KSA 5, 166, 30). Sie dienen wahlweise der Kennzeichnung eines bestimmten
Frömmigkeitstyps und der Denunziation einer spezifisch englischen Moralhal-
tung. Auch der politische Hauptrepräsentant des Puritanismus, der Lordpro-
tektor Oliver Cromwell bleibt nicht unerwähnt, vgl. NK 66, 19-22. Die puritani-
sche Ballung in JGB korrespondiert mit dem Nachlass von 1884 und 1885, wo
N. an einigen Stellen auf die Puritaner zu sprechen kommt und nebenbei auch
verrät, woher er neben Lecky seine Informationen bezog: „Taine: im Hinter-
gründe hat er Vorlieben: für die starken expressiven Typen z. B., auch für die
 
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