376 Jenseits von Gut und Böse
die Ordnung der Dinge, welche dem menschlichen Dasein gerade dieses und
eben nur dieses Ziel gewährt hat, als ein Unglück, als eine Unbill zu beklagen
oder sich mit trüber Resignation in sie als in ein unabänderliches Verhängniss
zu ergeben. Er strebt dem Nirvana mit derselben Siegesfreudigkeit entgegen,
mit welcher der Christ auf sein Ziel hinschaut, auf das ewige Leben“ (Olden-
berg 1881, 226).
62.
JGB 62 setzt unmittelbar den Gedankengang von JGB 61 fort, indem die Spre-
cherinstanz jetzt von der platonisierenden Utopie menschheitserziehender Phi-
losophen zur geschichtlichen Realität zurückkehrt. Dabei wird die „Gegen-
rechnung“ (81, 12) aufgemacht und gefragt, was geschieht, wenn Religion
statt als Mittel als Zweck angesehen wird: Zumindest unter der Hand führt
dies im Fall des Buddhismus und vor allem des Christentums zu einem
Desaster, dessen Abgründlichkeit am Ende dieses Abschnitts und damit
gleichzeitig am Ende des Dritten Hauptstücks mit der Anrufung zweier dieses
Entwicklungsschicksal betrachtender Götter mythologisierend überhöht wird.
Das Hauptproblem besteht darin, dass die genannten Religionen für die
Schwachen und Leidenden Partei ergreifen und damit den Starken und Le-
benswilligen die Normen der Schwäche und des Lebensunwillens aufzwingen.
In der Vorüberlegung NL 1885/86, KSA 12, 2[13], 71-74 (KGW IX 5, W I 8, 263-
259) sind zwar viele Motive von JGB 62 bereits enthalten - die Niedergangsten-
denz, die Herdenmoral, der Gott Epikurs, der Mensch als noch nicht festgestell-
tes Tier -, jedoch erscheinen dort noch nicht die beiden großen Religionen als
die Hauptmotoren der entwicklungsgeschichtlichen Hadesfahrt: „in der Ge-
sammt-Abrechnung gehören die bisherigen, nämlich souveränen Religio-
nen zu den Hauptursachen, welche den Typus ,Mensch4 auf einer niedrigeren
Stufe festhielten, — sie erhielten zu viel von dem, was zu Grunde gehn
sollte“ (KSA 5, 82, 7-11).
81, 20-23 die gelungenen Fälle sind auch beim Menschen immer die Ausnahme
und sogar in Hinsicht darauf, dass der Mensch das noch nicht festgestell-
te Thier ist, die spärliche Ausnahme] Die gesperrt gesetzte Aussage, der
Mensch sei das „noch nicht festgestellte Thier“, hat viele Interpreten dazu ver-
anlasst, N. als Vertreter einer (oft mit Herder assoziierten) Mängelwesen-An-
thropologie zu verstehen, wenn sie nicht wie Heidegger rügen, dass „mit der
Feststellung als Tier [...] das Wesen schon festgestellt“ sei (Heidegger 2014,
224, vgl. 320). Spätestens seit Giovanni Pico della Mirandola (den N. nirgends
erwähnt) in seiner Oratio de hominis dignitate (1486) den Menschen als jenes
die Ordnung der Dinge, welche dem menschlichen Dasein gerade dieses und
eben nur dieses Ziel gewährt hat, als ein Unglück, als eine Unbill zu beklagen
oder sich mit trüber Resignation in sie als in ein unabänderliches Verhängniss
zu ergeben. Er strebt dem Nirvana mit derselben Siegesfreudigkeit entgegen,
mit welcher der Christ auf sein Ziel hinschaut, auf das ewige Leben“ (Olden-
berg 1881, 226).
62.
JGB 62 setzt unmittelbar den Gedankengang von JGB 61 fort, indem die Spre-
cherinstanz jetzt von der platonisierenden Utopie menschheitserziehender Phi-
losophen zur geschichtlichen Realität zurückkehrt. Dabei wird die „Gegen-
rechnung“ (81, 12) aufgemacht und gefragt, was geschieht, wenn Religion
statt als Mittel als Zweck angesehen wird: Zumindest unter der Hand führt
dies im Fall des Buddhismus und vor allem des Christentums zu einem
Desaster, dessen Abgründlichkeit am Ende dieses Abschnitts und damit
gleichzeitig am Ende des Dritten Hauptstücks mit der Anrufung zweier dieses
Entwicklungsschicksal betrachtender Götter mythologisierend überhöht wird.
Das Hauptproblem besteht darin, dass die genannten Religionen für die
Schwachen und Leidenden Partei ergreifen und damit den Starken und Le-
benswilligen die Normen der Schwäche und des Lebensunwillens aufzwingen.
In der Vorüberlegung NL 1885/86, KSA 12, 2[13], 71-74 (KGW IX 5, W I 8, 263-
259) sind zwar viele Motive von JGB 62 bereits enthalten - die Niedergangsten-
denz, die Herdenmoral, der Gott Epikurs, der Mensch als noch nicht festgestell-
tes Tier -, jedoch erscheinen dort noch nicht die beiden großen Religionen als
die Hauptmotoren der entwicklungsgeschichtlichen Hadesfahrt: „in der Ge-
sammt-Abrechnung gehören die bisherigen, nämlich souveränen Religio-
nen zu den Hauptursachen, welche den Typus ,Mensch4 auf einer niedrigeren
Stufe festhielten, — sie erhielten zu viel von dem, was zu Grunde gehn
sollte“ (KSA 5, 82, 7-11).
81, 20-23 die gelungenen Fälle sind auch beim Menschen immer die Ausnahme
und sogar in Hinsicht darauf, dass der Mensch das noch nicht festgestell-
te Thier ist, die spärliche Ausnahme] Die gesperrt gesetzte Aussage, der
Mensch sei das „noch nicht festgestellte Thier“, hat viele Interpreten dazu ver-
anlasst, N. als Vertreter einer (oft mit Herder assoziierten) Mängelwesen-An-
thropologie zu verstehen, wenn sie nicht wie Heidegger rügen, dass „mit der
Feststellung als Tier [...] das Wesen schon festgestellt“ sei (Heidegger 2014,
224, vgl. 320). Spätestens seit Giovanni Pico della Mirandola (den N. nirgends
erwähnt) in seiner Oratio de hominis dignitate (1486) den Menschen als jenes