Metadaten

Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0398
License: In Copyright
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
378 Jenseits von Gut und Böse

denn bisher war der Mensch das ,nicht festgestellte Thier“4. Unmittelbar mit
Krankheit assoziiert ist die Nicht-Festgestelltheit auch in GM III13, KSA 5, 367,
1-3: „Der Mensch ist kränker, unsicherer, wechselnder, unfestgestellter als ir-
gend ein Thier sonst, daran ist kein Zweifel, - er ist das kranke Thier“. Es
greift wohl zu kurz, N.s Feststellung der Nicht-Festgestelltheit des Menschen
schlicht im Sinne einer prinzipiellen Ungebundenheit, einer womöglich unein-
geschränkten Selbsterschaffungskompetenz zu deuten. Dass allerdings „fest-
stellen“ in N.s Gedankenfigur „festlegen“ im heutigen Sprachgebrauch ent-
spricht, erscheint plausibel - das Verb „festlegen“ benutzte N. überhaupt nie,
während Grimm 1854-1971, 3,1568 „feststellen“ mit „statuere“ umschreibt und
damit als Synonym zur dort zuerst genannten Bedeutung von „festsetzen“.
81, 29-82, 4 Wie verhalten sich nun die genannten beiden grössten Religionen
zu diesem Überschuss der misslungenen Fälle? Sie suchen zu erhalten, im
Leben festzuhalten, was sich nur irgend halten lässt, ja sie nehmen grundsätzlich
für sie Partei, als Religionen für Leidende, sie geben allen Denen Recht, wel-
che am Leben wie an einer Krankheit leiden, und möchten es durchsetzen, dass
jede andre Empfindung des Lebens als falsch gelte und unmöglich werde.] Ge-
meint sind nach JGB 61, KSA 5, 81, 3f. das Christentum und der Buddhismus,
die pauschal als „Religionen für Leidende“ erscheinen und mit ihrer Par-
teinahme für diese Leidenden die positive Selektion zugunsten der Starken
durchkreuzen. In AC 23 sollte dagegen der Buddhismus dafür gelobt werden,
dass er es nicht nötig habe, Leiden durch seine Interpretation als Sünde(nfol-
ge) schönzureden und es daher einfach auf die Leidensreduktion abgesehen
habe (vgl. NK KSA 6, 189, 26-29).
82,15-34 Und doch, wenn sie den Leidenden Trost, den Unterdrückten und Ver-
zweifelnden Muth, den Unselbständigen einen Stab und Halt gaben und die In-
nerlich-Zerstörten und Wild-Gewordenen von der Gesellschaft weg in Klöster und
seelische Zuchthäuser lockten: was mussten sie ausserdem thun, um mit gutem
Gewissen dergestalt grundsätzlich an der Erhaltung alles Kranken und Leiden-
den, das heisst in Thatund Wahrheit an der Verschlechterung der euro-
päischen Rasse zu arbeiten? Alle Werthschätzungen auf den Kopf stel-
len — das mussten sie! Und die Starken zerbrechen, die grossen Hoffnungen
ankränkeln, das Glück in der Schönheit verdächtigen, alles Selbstherrliche,
Männliche, Erobernde, Herrschsüchtige, alle Instinkte, welche dem höchsten und
wohlgerathensten Typus „Mensch“ zu eigen sind, in Unsicherheit, Gewissens-
Noth, Selbstzerstörung umknicken, ja die ganze Liebe zum Irdischen und zur
Herrschaft über die Erde in Hass gegen die Erde und das Irdische verkehren —
das stellte sich die Kirche zur Aufgabe und musste es sich stellen, bis für ihre
Schätzung endlich „Entweltlichung“, „Entsinnlichung“ und „höherer Mensch“ in
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften