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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0417
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Stellenkommentar JGB 73, KSA 5, S. 86 397

lischen Krämpfe verwechselt werden!“ Gestrichen hat N. dazu die Notate: „(1)
Eure moralischen Krämpfe und Stellungen beweisen gegen euch und (2) Ich
glaube nicht an eure Tugenden: ich sehe nur moralische Krämpfe und-“
(KGW VII 4/1, 84).
Die Wendung „moralische Krämpfe“ taucht im deutschsprachigen Schrift-
tum vor N. nur gelegentlich auf (vgl. z. B. Weikard 1798, 2, 52: „Die hysterische
Disposition vieler heutigen Gelehrten veranlaßt literarische und moralische
Krämpfe“), während die „convulsions morales“ auf Französisch sehr wohl ge-
läufig waren, durchaus auch in spezifisch pathologischem Zusammenhang (so
bei Landouzy 1846, 64). Von „hoher Empfindung“ ist bei den Romantikern,
namentlich bei Ludwig Tieck und Clemens Brentano, häufig die Rede, ebenso
indervonN. zum „Schatz der deutschen Prosa“ (MAII WS 109, KSA2,
599) gezählten Lebensgeschichte von Johann Heinrich Jung-Stilling. Es fällt auf,
dass die Fassung letzter Hand, d.h. JGB 72, die moralkritische Spitze der Vor-
fassungen ausblendet, so dass der Leser nicht mehr wissen kann, dass die
„Stärke“ „hoher Empfindungen“ bei N. ursprünglich gegen moralische Zustän-
de und „Tugenden“ in Stellung gebracht worden ist. Die Kurzfassung verrätselt
also das ursprünglich Gemeinte, stellt aber durch den in 3[1] nicht gegebenen,
unmittelbaren Textzusammenhang zu dem in JGB 71 Gesagten auch einen As-
soziationszusammenhang mit der erforderlichen Entmoralisierung der Er-
kenntnis sowie der „hohen Empfindung“ mit dem Blick zu den Sternen, also
mit dem Erhabenheitsdiskurs her.

73.
86, 22 f. Wer sein Ideal erreicht, kommt eben damit über dasselbe hinaus.] Ab-
gesehen von einem den Lesefluss retardierenden Gedankenstrich vor dem letz-
ten Wort stimmt die Fassung in NL 1882, KSA 10, 3[1]264, 85, If. mit JGB 73
genau überein. Später wurde dort allerdings mit Bleistift „Ideal“ in „Ziel“ ver-
bessert (KGW VII 4/1, 85). Dies entspricht der Fassung in NL 1883, KSA 10,
12[1]97, 391, 15 f. Gedanklich ist der Abschnitt aber schon vor 3[1]264 in den
Tautenburger Aufzeichnungen für Lou von Salome vorbereitet, so in NL 1882,
KSA 10,1[11], 11, 5-7 (dazu eine erste Version in KGW VII 4/1, 44: „ Kraft und
Ideal. - Unsere Kraft reicht immer weiter als unser Auge. Unser Ideal ist noch
nicht unsere Grenze“) sowie in lyrischer Form in NL 1882, KSA 10, l[103], 34,
17-35, 4 (diverse Varianten in KGW VII 4/1, 52); die Überlegung kehrt wieder
in NL 1883, KSA 10, 13[10], 459, 23 f. In ihrem Roman Im Kampf um Gott greift
Lou von Salome Motive aus ihren Tautenburger Gesprächen mit N. zum Ideal
und seiner Überwindungsbedürftigkeit auf (vgl. z. B. [Salome] 1885, 183). Zur
Interpretation von JGB 73 vgl. auch Burnham 2007, 103 f.
 
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