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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0422
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402 Jenseits von Gut und Böse

„höre auf, dich etwas anzugehn! werde objektiv!“ — und Sokrates? — und der
„wissenschaftliche Mensch“? —] Noch ohne den Bezug auf die Inschrift des
Apollon-Tempels (Apollon = „jener Gott“) in Delphi: „Erkenne dich (selbst)“
(FvwOi cteoiutov), auf die N. häufig zu sprechen kommt (vgl. z. B. NK KSA 1, 40,
6-10 u. NK KSA 6, 293, 29-32), und auch ohne Bezug auf Sokrates, lautet eine
Vorstufe in NL 1882, KSA 10, 3[1]45, 58, 19-21: „Eine Sache, die sich aufklärt,
hört auf, uns zu interessiren. Nimm dich also in Acht, daß du dir nicht selber
zu aufgeklärt wirst!“ Noch strenger untersagt das Notat NL 1883, KSA 10, 22[3],
621, 8-9 eine zu weit gehende Selbstaufklärung, während NL 1884/85, KSA 11,
31[39], 376,1-2 und NL 1884/85, KSA 11, 32[8]7, 401, 28 f. nicht nur die Selbster-
kenntnis unter Vorbehalt stellen: „das klärte sich auf: nun geht es mich nichts
mehr an. — Hüte dich, du könntest über zu-Viel aufgeklärt werden!“ (KSA 11,
401, 28 f.) Zarathustras Schatten bekennt schließlich, dass ihm mit der radika-
len Aufklärung auch jegliche Anteilnahme, jegliches Welt-, aber auch Selbstin-
teresse verloren gegangen sei: „Zu Viel klärte sich mir auf: nun geht es mich
Nichts mehr an. Nichts lebt mehr, das ich liebe, — wie sollte ich noch mich
selber lieben?“ (Za IV Der Schatten, KSA 4, 340, 21-23). Ursprünglich fehlte
übrigens der ersten einschlägigen Notiz in 3[1]45 die Wendung gegen das nach
Selbsterkenntnis strebende Ich. Sie lautete: „Eine Sache, die sich aufklärt, hört
auf, uns zu interessiren, es sei denn, daß wir sie aufklärten“ (KGW VII 4/1,
63).
N.s Freund Overbeck hat am Anfang seiner Studien Zur Geschichte des
Kanons - über die N. urteilte: „Deine eignen Abhandlungen} sind sehr feine
Sachen, es weht eine so g u t-philologische Luft darin“ (N. an Overbeck,
19. 07.1880, KSB 6/KGB III/l, Nr. 41, S. 30, Z. 3f.) - in einem zu 88, 5 parallelen
Gedanken den der Aufklärung entgegengesetzten Prozess der Kanonisierung
beschrieben, der den gegenteiligen Effekt zeitige: „Es liegt im Wesen aller Ka-
nonisation ihre Objecte unkenntlich zu machen, und so kann man denn auch
von allen Schriften unseres neuen Testamentes sagen, dass sie im Augenblick
ihrer Kanonisirung aufgehört haben verstanden zu werden.“ (Overbeck 1880,1,
vgl. dazu auch Emmelius 2016.) Daraus folge wiederum, dass das Kanonisierte
interessant werde.
Sokrates gilt bei N. als Wegbereiter der Wissenschaft (vgl. GT 15, KSA 1,
97-102), als deren Gott Apollon traditionell auftritt. Der „wissenschaftliche
Mensch, der sich abseits von dem Leben stellt, um es recht deutlich zu erken-
nen“ (UBII HL 10, KSA 1, 326,11 f.), war in N.s Frühwerk wiederholt Zielscheibe
ironischer Ausfälle. N. zeigte sich angewidert „von der kalten und verächtli-
chen Neutralität des sogenannten wissenschaftlichen Menschen“ (UB III SE 4,
KSA 1, 372, 23-25). JGB 80 variiert also N.s alten Verdacht, Wissenschaft sei
dem Lebens- und damit auch dem Selbstinteresse abträglich. Aufklärung gerät
so in den Geruch des Nihilismus.
 
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