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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0427
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Stellenkommentar JGB 87, KSA 5, S. 89 407

mativ vollzieht JGB 232, KSA 5,172, 3-5: „Und ist es nicht wahr, dass, im Gros-
sen gerechnet, ,das Weib‘ bisher vom Weibe selbst am meisten missachtet wur-
de — und ganz und gar nicht von uns?“ Das sprechende „Wir“ ist offensichtlich
exklusiv männlich. Die in der ursprünglichen Aufzeichnung benutzte Wen-
dung „Verachtung für das weibliche Geschlecht“ gebraucht auch Anatole
Leroy-Beaulieu im ersten Band seines Buches L’empire des Tsars et les Busses
im Zusammenhang mit Erörterungen der gesetzlichen Behandlung von Frauen
in Russland: „Cette legislation n’a pas du reste pour point de depart le dedain
du sexe feminin“ (Leroy-Beaulieu 1881, 1, 327 = Leroy-Beaulieu 1883, 1, 343.
„Diese Gesetzgebung hat übrigens als Ausgangspunkt nicht die Verachtung für
das weibliche Geschlecht“). Zumindest für N.s letzte Schriften ist die Bekannt-
schaft mit Leroy-Beaulieus Werk wahrscheinlich, siehe NK KSA 6, 62, 17 f. u.
NK KSA 6, 272, 14-24.
87.
89, 10-13 Gebunden Herz, freier Geist. — Wenn man sein Herz hart
bindet und gefangen legt, kann man seinem Geist viele Freiheiten geben: ich
sagte das schon Ein Mal. Aber man glaubt mir’s nicht, gesetzt, dass man’s nicht
schon weiss ] Vgl. NK 88, 18-20. Zu JGB 87 lassen sich im Nachlass keine
Vorarbeiten nachweisen; auch ist nicht deutlich, auf welche Stelle in N.s Werk
sich der Rückverweis beziehen soll. MA I 629 rät vielmehr dazu, sich um der
Freiheit und Wendigkeit des Geistes willen die Herzensbindung an Überzeu-
gungen preiszugeben: „Weil man Treue geschworen, vielleicht gar einem rein
fingirten Wesen, wie einem Gotte, weil man sein Herz hingegeben hat, einem
Fürsten, einer Partei, einem Weibe, einem priesterlichen Orden, einem Künst-
ler, einem Denker, im Zustande eines verblendeten Wahnes, welcher Entzü-
ckung über uns legte und jene Wesen als jeder Verehrung, jedes Opfers würdig
erscheinen liess — ist man nun unentrinnbar fest gebunden? Ja haben wir uns
denn damals nicht selbst betrogen?“ (KSA 2, 354, 29-355, 3) In Za I Vorrede 4
etabliert Zarathustra sogar eine ausdrückliche Parallelität zwischen der Frei-
heit des Herzens und des Geistes: „Ich liebe Den, der freien Geistes und freien
Herzens ist: so ist sein Kopf nur das Eingeweide seines Herzens, sein Herz aber
treibt ihn zum Untergang.“ (Za I Vorrede 4, KSA 4,18,14-16) Sinngemäß taucht
die Aussage von JGB 87 aber in JGB 209 wieder auf, wo es von der neuen,
harten, deutschen Art der Skepsis heißt: „sie giebt dem Geiste gefährliche Frei-
heit, aber sie hält das Herz streng“ (KSA 5, 141, 17 f.).
Die Titelzeile von JGB 87 (89, 10) parodiert einen berühmten Ausruf aus
Karl Gutzkows Schauspiel Ella Rose oder Die Rechte des Herzens (2. Aufzug,
5. Auftritt): „ein gebundenes Herz und doch unendlich, unendlich sich
 
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