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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0436
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416 Jenseits von Gut und Böse

101.
91,11 f. Heute möchte sich ein Erkennender leicht als Thierwerdung Gottes füh-
len.] In NL 1882, KSA 10, 3[1]249, 83, 4 wird noch kein Wunsch oder eine Mög-
lichkeit ausgedrückt, sondern nur ein angebliches Faktum konstatiert: „Der
Erkennende fühlt sich als die Thierwerdung Gottes.“ (In NL 1883, KSA 10,
12[l]100, 391, 21 kommt vor „Gottes“ noch ein die Lektüre retardierender Ge-
dankenstrich.) Breiter führt NL 1884/85, KSA 10, 31[54], 387, 6-8 aus: „der Er-
kennende von heute, welcher lehrt: einst wollte Gott zum Thier werden: siehe
das ist der Mensch: — ein Gott als Thier!“ (Vgl. ähnlich NL 1884/85, KSA 10,
32[8]37, 403, 27-29 u. 32[9], 404, 22-25).
Der Gedanke, dass Gott Tier werden könnte, ist die ironische Kontrafaktur
einer Grundlehre des Christentums, nämlich der Menschwerdung Gottes. Die
Formulierung selbst findet sich bereits vor N. in christlich-apologetischem Zu-
sammenhang, so in einer im Nachlass Franz von Baaders überlieferten, wohl
von Friedrich Heinrich Jacobi stammenden, auf den 14. 06.1806 datierten Auf-
zeichnung: „Du sollst nicht versuchen, sichtbar zu machen das Unsichtbare;
zu verkörpern das Unkörperliche (auch nicht naturphilosophisch) - gemein zu
machen das Heilige. - Du wirst ein Götzendiener, und verführest, Dir nachzu-
huren, so Du solches thust. / Unter den Thieren ist weder Religion noch Göt-
zendienst. / Menschwerdung - Thierwerdung Gottes. / Wenn irgend ein Ver-
brechen den Tod verdient, so ist es die Verführung eines Volkes zum Götzen-
dienst.“ (Baader 1857, 15, 202, Anm.) Nach Überlegungen aus N.s Nachlass
1884/85 wollte Gott Tier werden - um sich sinnlich, weltlich zu fühlen (vgl.
JGB 65a u. JGB 66)? -, wobei etwas schiefgegangen sein muss, so dass der
Mensch herauskam. Nach traditioneller Auffassung teilt der Mensch das Erken-
nenkönnen mit Gott; er bleibt als Sinnenwesen aber tierisch-beschränkt, so
dass sich der Erkennende nach JGB 101 eben gerade als Tierwerdung Gottes
fühlen darf. Die zeitliche Bestimmung „Heute“ indiziert, wie viel metaphysi-
scher Ballast abgeworfen sein musste, um zu einer solchen ironischen Selbster-
kenntnis zu kommen.
Zur Interpretation von JGB 101 siehe auch Andreas-Salome 1894, 247;
Häntzschel-Schlotke 1967, 95; Sloterdijk 1993, 48, Fn. 1; Large 2001, 114,
Anm. 53 u. Burnham 2007, 104.

102.
91,14-16 Gegenliebe entdecken sollte eigentlich den Liebenden über das gelieb-
te Wesen ernüchtern. „Wie? es ist bescheiden genug, sogar dich zu lieben? Oder
dumm genug? Oder — oder —“] Vgl. NL 1882, KSA 10, 3[1]244, 82,11-13: „Gegen-
 
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