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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0437
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Stellenkommentar JGB 102, KSA 5, S. 91 417

liebe entdecken sollte uns eigentlich über das geliebte Wesen ernüchtern: wie
kann es so thöricht sein, an dich zu glauben?“ Im selben Notizheft gibt es
nach KGW VII 4/1, 83: „fragmentarische Ansätze, die N vor Abfassung von 244
durchgestrichen hat: (1) Das Gesetz der Ebbe und Fluth in unseren Gefühlen
für Freunde und Geliebte (2) der Glaube macht rmich-' selig, namentlich der
Glaube ''Anderer-' an mich wenn jemand an mich glaubt (3) Geliebtwerden ist
für mißtrauische M(enschen}“. In M 415, KSA 3, 255, 28-30 wird die „Gegenlie-
be“ nach Ovids Buchtitel Remedia amoris als „Remedium amoris“, also
als Gegenmittel gegen die Liebe empfohlen: Die Gegenliebe scheint den Lie-
benden abzustoßen. JGB 102 führt den vermuteten Grund dafür näher aus: Ent-
deckt der Liebende, dass der Geliebte ihn gleichfalls liebt, obwohl der Geliebte
doch der einzig würdige Gegenstand der Liebe ist, tritt eine Ernüchterung über
diesen Geliebten ein. Die landläufige Auffassung, die in M 415 und JGB 102
konterkariert wird, besagt, dass der Liebende gerade auf größtmögliche Gegen-
liebe aus ist. In ihrer klassischen Form dürfte N. dieser Auffassung bei Spinoza:
Ethica ordine geometrico demonstrata III, prop. 33-35, näherhin in der Para-
phrase von Kuno Fischer begegnet sein: „Das Object unserer Liebe sei ein We-
sen unseresgleichen. Was wir lieben, wollen wir erhalten und wünschen, daß
es so vollkommen sei als möglich. Wir werden daher Alles thun, um den Ge-
liebten zu erfreuen; wir wollen die Ursache seiner Freude sein, also der Gegen-
stand seiner Liebe, d. h. wir wollen wiedergeliebt werden. Aus der Liebe folgt
nothwendig das Streben nach Gegenliebe. Je größer diese Gegenliebe ist,
um so werthvoller erscheinen wir dem Geliebten, um so werthvoller und voll-
kommener erscheinen wir uns selbst, um so höher steigt unser Selbstgefühl.
Nichts hebt unser Selbstgefühl so mächtig als das Bewußtsein, geliebt und wie-
dergeliebt zu werden. Nichts ist für unser Selbstgefühl niederschlagender als
Liebe ohne Gegenliebe d. i. unglückliche Liebe. Darum strebt die Liebe nicht
bloß nach Gegenliebe, sondern nach der vollkommensten Gegenliebe. Jeder
Abbruch und jeder Verlust, den wir in diesem Punkte erleiden, wird als Selbst-
verlust empfunden, d. h. auf die schmerzlichste Weise. Die vollkommenste Ge-
genliebe ist die ausschließliche. [...] Wird nun von dem Geliebten ein Anderer
mehr geliebt als wir, so fühlen wir uns grenzenlos unglücklich. Die Ursache
unseres Unglücks ist ein Gegenstand unseres Hasses. Also werden wir den Ge-
liebten hassen, weil er uns seine Gegenliebe entzieht, und den Anderen benei-
den, weil er diese Gegenliebe besitzt. So entsteht eine Liebe, die zugleich haßt
und beneidet.“ (Fischer 1865, 2, 369; zu N.s Spinoza-Fischer-Rezeption siehe
Gerhardt 1996,190-193; Scandeila 2012; Scandeila 2013; Sommer 2012b u. Gro-
ße Wiesmann 2015.) Eine solche Sicht hält die Sprecherinstanz in JGB 102 für
psychologisch unplausibel - wenigstens, so wird man ergänzen müssen, für
den Fall, dass der Liebende sich seiner selbst nicht ganz sicher fühlt, sondern
beispielsweise von Selbstherabsetzungs- und Demutsqualen geplagt wird.
 
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