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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0438
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418 Jenseits von Gut und Böse

103.
91,18-20 Die Gefahr im Glücke. — „Nun gereicht mir Alles zum Besten, nunmehr
liebe ich jedes Schicksal: — wer hat Lust, mein Schicksal zu sein?“] In einer
Aufzeichnung wird diese in JGB 103 suchend formulierte Liebe zum Schicksal -
die FW 276, KSA 3, 521, 22 in die berühmte lateinische Wendung amor fati
kleidete (vgl. ausführlich NK KSA 6, 297, 24 f.) - Zarathustra in den Mund ge-
legt: „Wer will mein Schicksal sein? Ich liebe jedes Schicksal. Selig wird Zara-
thustra!“ (NL 1882, KSA 10, 2[9], 46, If.) Aus dem Zarathustra-Kontext entfernt
wurde die Wendung dann mit der Alleinstellung als Sentenz in NL 1882, KSA
10, 3[1], 90, 8f. (nach KGW VII 4/1, 91 hat N. diese Notiz schließlich durchge-
strichen). JGB 103 kontextualisiert den Spruch wieder neu, indem er nun mit
zitatmarkierenden Anführungszeichen auf Distanz gehalten und mit einer ein-
leitenden Vorschrift versehen wird, der die in der Sentenz propagierte Liebe
zum Schicksal als spezifische „Gefahr“, nämlich als Gefahr im Glück - viel-
leicht auch als Gefahr der Schicksallosigkeit? - markiert und sich damit in die
alte Tradition der Hybris-Kritik einzureihen scheint: Ist es denn nicht Hybris,
zu meinem, man könne nicht nur jedem Schicksal gewachsen sein, sondern es
auch lieben?
Einen späten Nachklang auf diese Sentenz liefert noch NL 1888, KSA 13,
20[43], 556, 17-19: „du hältst es nicht mehr aus, / dein herrisches Schicksal? /
Liebe es, es bleibt dir keine Wahl!“

104.
91, 22 f. Nicht ihre Menschenliebe, sondern die Ohnmacht ihrer Menschenliebe
hindert die Christen von heute, uns — zu verbrennen.] Die frühere Fassung lautet
etwas umständlicher und unpersönlicher: „Nicht ihre Menschenliebe, sondern
die Ohnmacht ihrer Menschenliebe verhindert die Christen von heute, Scheiter-
haufen für die Ketzer aufzurichten.“ (NL 1882, KSA 10, 3[1]355, 96, 19-21). Die
praktischen Konsequenzen hatte schon Schopenhauer in einer Nachlassauf-
zeichnung bedacht: „Seitdem die ultima ratio theologorum, der Schei-
terhaufen, nicht mehr in’s Spiel kommt, wäre eine Memme, wer noch viel Um-
stände mit Lug und Trug machte.“ (Schopenhauer 1864, 440, Randstriche N.s,
vgl. Schopenhauer 1873-1874, 6, 369).
Gegen die besonders von protestantischen Theologen des 19. Jahrhunderts
favorisierte Ansicht, die Gedanken der „Humanität“ und der „Menschenliebe“
seien eigentlich eine christliche Erfindung und von den frühen heidnischen
Kaisern quasi usurpiert worden, polemisierte N.s Freund Franz Overbeck
scharf in seinen Studien zur Geschichte der alten Kirche: „Aber hat man denn
 
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