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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0440
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420 Jenseits von Gut und Böse

kultischen Bräuche] nicht scheren, oder aber die Gefahr eines weibischen
Aberglaubens, wenn wir sie beachten“).
Mag man noch geneigt sein, aus der Nachlass-Fassung 3[1]378 eine Identi-
fikation des Schreibenden mit dem „Erkennenden“ abzuleiten, so markiert die
Druckfassung JGB 105 eine stärkere Distanz zum „freien Geist“, dessen „Unfrei-
heit“ nur erkennen kann, wer nicht selbst in freigeistigen Befangenheiten ver-
strickt bleibt. So erscheint der „freie Geist“ auch nicht mehr als Erkennender,
sondern selbst als ,,Fromme[r] der Erkenntniss“: Er hat offensichtlich nur die
hergebrachte, christliche Frömmigkeit mit einer neuen, wissenschaftlichen
Frömmigkeit vertauscht. N. hat in UBI DS scharf die moderne Bildungsreligion
kritisiert, die namentlich David Friedrich Strauß in seinem Buch Der alte und
der neue Glaube 1872 propagiert hatte. Im Gefolge von Strauß veröffentlichte
der „freireligiöse Prediger“ (so das Titelblatt) Wilhelm Hieronymi ein schmales
Buch unter dem Titel Religion der Erkenntniß, das N. etwa bei der Lektüre von
Hellwalds Culturgeschichte untergekommen sein kann (Hellwald 1876-1877a, 1,
44). Hieronymi widmete Strauß’ Werk nicht nur den Eingangsaufsatz (Hierony-
mi 1874, 3-34), sondern dekretierte: „Fortschreitende vernünftige Erkenntniß
ist fortschreitende Religion.“ (Ebd., 78) Derartiger frommer Freigeisterei stand
N. ablehnend gegenüber, weil sie sich nicht zur Kritik ihrer eigenen Grundsätze
durchzuringen vermochte. Zur Bildungsreligion im 19. Jahrhundert vgl. kurso-
risch Sommer 2011a.

106.
92, 8 Vermöge der Musik geniessen sich die Leidenschaften selbst.] In der Fas-
sung des Notizheftes Z I 1 sind bei sonstiger Identität „die Leidenschaften“ -
freilich annähernd bedeutungsgleich - durch „die Affekte“ ersetzt (NL 1882,
KSA 10, 3[1]369, 98, 6). Darauf aufbauend notierte N. in NL 1883, KSA 10, 7[62],
262, 7-10: „Jetzt erst dämmert es den Menschen auf, daß die Musik eine Zei-
chensprache der Affekte ist: und später wird man lernen, das Trieb-system ei-
nes Musikers aus seiner Musik deutlich zu erkennen.“ (Vgl. NK107, 28 f.) Diesen
Gedanken modizifierte N. schließlich in GD Streifzüge eines Unzeitgemässen
10, KSA 6, 118, 6 f. unter Anspielung auf die Affektenlehre der von ihm damals
gelesenen französischen Physiologen (sowie auf die von Jacob Bernays vorge-
schlagene Lesart der aristotelischen Katharsis als Entladung): „Musik, wie wir
sie heute verstehn, ist gleichfalls eine Gesammt-Erregung und -Entladung der
Affekte“.
Die Bestimmung von JGB 106 lässt Schopenhauers Musik-Metaphysik an-
klingen, in der bekanntlich die Musik nicht, wie es bei den anderen Künsten
der Fall sei, „das Abbild der Ideen“, sondern das „Abbild des Willens
 
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