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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0449
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Stellenkommentar JGB 116, KSA 5, S. 93 429

fert (vgl. Schopenhauer 1873-1874, 2, 633-638), blendet N.s Sentenz alle meta-
physischen Hypotheken aus und suggeriert, dass Frauen bei einer Neugewich-
tung der Geschlechtsliebe - ihrer Ausblendung? - einen neuen Blick fürs Ferne
bekommen könnten. Dies wiederum erinnert an Schopenhauers Bemerkung,
wonach durch Romane dem „Jüngling“ und dem „Mädchen“ „eine ganz fal-
sche Lebensansicht untergeschoben“ und „Erwartungen erregt“ würden, „die
nie erfüllt werden können. Dies hat meistens den nachtheiligsten Einfluß auf
das ganze Leben“ (Schopenhauer 1873-1874, 6, 669). Stellte man die Roman-
lektüre ein, und dämpfte man die Erwartungen an das Liebesleben, könnte
also das menschliche Schicksal eine ganz andere Bahn einschlagen.

115.
93,16 f. Wo nicht Liebe oder Hass mitspielt, spielt das Weib mittelmässig.] Für
diese Sentenz ist keine Vorarbeit im Nachlass nachzuweisen. Offensichtlich
dient sie der Kontrafaktur von JGB 114, wo eine Lockerung der unglücksträchti-
gen Liebesfixierung bei Frauen empfohlen zu werden schien. War die ur-
sprüngliche Fassung von JGB 114 an Lou von Salome adressiert, ließe sich -
im Modus der interpretatorischen Spekulation - JGB 115 (trotz des bemüht
amüsanten Wortspiels „mitspielt - spielt mit[...]“) als Kommentar des zurück-
gesetzten Liebhabers lesen, der die Kälte seiner Angebeteten als Mittelmäßig-
keit anprangert und sich doch nicht traut, sein Ressentiment in der ersten Per-
son namhaft zu machen. JGB 116 - ein Text freilich mit älteren Wurzeln -
scheint ein Rezept dafür an die Hand zu geben, wie man unliebsame Passagen
der eigenen Vergangenheit nachträglich ameliorisieren kann. Vgl. zum Thema
des weiblichen Hasses auch NK 88, 22 f.

116.
93,19 f. Die grossen Epochen unsres Lebens liegen dort, wo wir den Muth gewin-
nen, unser Böses als unser Bestes umzutaufen.] Eine Vorform des Gedankens ist
in NL 1882/83, KSA 10, 4[26], 115, 17-116, 4 noch entschieden kritisch akzentu-
iert: „Die Guten als die nothwendigen Pharisäer. / [...] / Die das Gute Schaf-
fenden haben ihren Gegensatz in den Bewahrenden des Guten. / Der Punkt,
wo einer den Muth bekommt, sein Böses als sein Gutes zu empfinden z. B. der
Christ seine ,Feigheit4.“ Hier ist es also der verabscheute Christ, der eine negati-
ve Charaktereigenschaft zur Tugend - beispielsweise zur Gottergebenheit oder
Demut - umdeutet, um so besser mit sich selbst zu Rande zu kommen. Das
Nachlass-Notat denunziert überdies unter dem Titel „Pharisäer“ eine spezi-
 
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