Stellenkommentar JGB 119, KSA 5, S. 93-94 431
anhand von JGB 117 (vgl. auch Christians 2002, 307). Türcke 2003, 31 findet in
93, 22 f. ein Indiz für das Reflexiv- und Grausam-Werden der Moral.
93, 23 mehrerer] Fälschlich heißt es in KSA 5, 93, 23: „mehrer“. Das ist ein
Druckfehler; in der Erstausgabe steht unmissverständlich: „mehrerer“ (Nietz-
sche 1886, 94).
118.
94, 2-4 Es giebt eine Unschuld der Bewunderung: Der hat sie, dem es noch
nicht in den Sinn gekommen ist, auch er könne einmal bewundert werden.] In NL
1882/83, KSA 10, 5[1]112, 200, If. wird direkt ein Gegenüber angesprochen: „Du
hast noch die volle Unschuld der Bewunderung: du glaubst nicht daran, je
bewundert werden zu können.“ In die 3. Person transponiert dann NL 1883,
KSA 10,12[1]196, 400,1-3 die Überlegung: „Er hat noch die volle Unschuld der
Bewunderung: d. h. er dachte noch nicht daran, daß er selber einmal bewun-
dert werden könnte.“
Seit dem 17. Jahrhundert ist der Topos der verfolgten Unschuld verbreitet
(vgl. die Übersicht bei Lühe 2001) - gerade diese Unschuld hat in der Literatur
des 18. Jahrhunderts vielfach Bewunderung erregt, vgl. z. B. den programmati-
schen Brief über den Begriff der Bewunderung von Moses Mendelssohn an Les-
sing vom Dezember 1756 zu Samuel Richardsons Clarissa: „Die Angehörigen
der Clarissa müssen, wie von einem Donner gerührt, dastehen, als ihre Ver-
wunderung über die widersprechende Aufführung ihres Clärchens plötzlich in
eine Bewunderung ihrer siegenden Unschuld aufgelös’t wird.“ (Lessing 1825,
28, 81) Eine Pointe von JGB 118 besteht also in der Topos-Umkehrung: Statt
von der im moralisch-christlichen Kontext gebotenen Bewunderung der Un-
schuld ist jetzt die Rede von der „Unschuld der Bewunderung“ - die verfliegt,
wenn man selbst bewundert wird und man dabei in der Bewunderung das
Menschlich-Allzumenschliche erkennt.
119.
94, 6 f. Der Ekel vor dem Schmutze kann so gross sein, dass er uns hindert, uns
zu reinigen, — uns zu „rechtfertigen“.] Abgesehen vom dort fehlenden Nachsatz
zur Rechtfertigung steht diese Sentenz bereits in NL 1882/83, KSA 10, 4[37], 118,
8f. und wird mit geringfügiger Abweichung („so groß werden“) in NL 1882/83,
KSA 10, 5[1]86, 197, 4f. wiederholt.
Das Verhältnis von Ekel und Schmutz hat Kant in seiner Vorlesung Men-
schenkunde oder philosophische Anthropologie reflektiert, um zivilisationsge-
anhand von JGB 117 (vgl. auch Christians 2002, 307). Türcke 2003, 31 findet in
93, 22 f. ein Indiz für das Reflexiv- und Grausam-Werden der Moral.
93, 23 mehrerer] Fälschlich heißt es in KSA 5, 93, 23: „mehrer“. Das ist ein
Druckfehler; in der Erstausgabe steht unmissverständlich: „mehrerer“ (Nietz-
sche 1886, 94).
118.
94, 2-4 Es giebt eine Unschuld der Bewunderung: Der hat sie, dem es noch
nicht in den Sinn gekommen ist, auch er könne einmal bewundert werden.] In NL
1882/83, KSA 10, 5[1]112, 200, If. wird direkt ein Gegenüber angesprochen: „Du
hast noch die volle Unschuld der Bewunderung: du glaubst nicht daran, je
bewundert werden zu können.“ In die 3. Person transponiert dann NL 1883,
KSA 10,12[1]196, 400,1-3 die Überlegung: „Er hat noch die volle Unschuld der
Bewunderung: d. h. er dachte noch nicht daran, daß er selber einmal bewun-
dert werden könnte.“
Seit dem 17. Jahrhundert ist der Topos der verfolgten Unschuld verbreitet
(vgl. die Übersicht bei Lühe 2001) - gerade diese Unschuld hat in der Literatur
des 18. Jahrhunderts vielfach Bewunderung erregt, vgl. z. B. den programmati-
schen Brief über den Begriff der Bewunderung von Moses Mendelssohn an Les-
sing vom Dezember 1756 zu Samuel Richardsons Clarissa: „Die Angehörigen
der Clarissa müssen, wie von einem Donner gerührt, dastehen, als ihre Ver-
wunderung über die widersprechende Aufführung ihres Clärchens plötzlich in
eine Bewunderung ihrer siegenden Unschuld aufgelös’t wird.“ (Lessing 1825,
28, 81) Eine Pointe von JGB 118 besteht also in der Topos-Umkehrung: Statt
von der im moralisch-christlichen Kontext gebotenen Bewunderung der Un-
schuld ist jetzt die Rede von der „Unschuld der Bewunderung“ - die verfliegt,
wenn man selbst bewundert wird und man dabei in der Bewunderung das
Menschlich-Allzumenschliche erkennt.
119.
94, 6 f. Der Ekel vor dem Schmutze kann so gross sein, dass er uns hindert, uns
zu reinigen, — uns zu „rechtfertigen“.] Abgesehen vom dort fehlenden Nachsatz
zur Rechtfertigung steht diese Sentenz bereits in NL 1882/83, KSA 10, 4[37], 118,
8f. und wird mit geringfügiger Abweichung („so groß werden“) in NL 1882/83,
KSA 10, 5[1]86, 197, 4f. wiederholt.
Das Verhältnis von Ekel und Schmutz hat Kant in seiner Vorlesung Men-
schenkunde oder philosophische Anthropologie reflektiert, um zivilisationsge-