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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0456
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436 Jenseits von Gut und Böse

er kehrt damit die gängige moralisierende Sicht um, wonach die Ehe durch das
Konkubinat, das bloße Interesse an der sexuellen Beziehung korrumpiert wer-
de. Die Assoziation von Korruption und Konkubinat wird beispielsweise expli-
zit gemacht in Montesquieu: L’esprit des lois [1777], Buch XXIII, Kapitel 6: „il
n’y avoit qu’une tres-grande corruption de moeurs qui püt porter au concubina-
ge („nur eine sehr große Korruption der Sitten konnte [sc. im Alten Rom] zum
Konkubinat Anlass geben“). Das Verhältnis von Ehe und Konkubinat und die
Überlastung der Ehe thematisiert auch NL 1887, KSA 12,10 [88], 507,12-17 (KGW
IX 6, W II 2, 75,14-20): „Die Ehe ist eine Form des Concubinats, bei der grund-
sätzlich zu Viel versprochen wird: hier wird etwas versprochen, was man nicht
versprechen kann, nämlich ,Liebe immerdar4, — hier wird die geschlechtliche
Funktion als ,Pflicht4 angesetzt, die man fordern kann ...“ Hinter JGB 123 ver-
birgt sich demgegenüber ein Plädoyer für eine libertinistische Entmoralisie-
rung und Entsentimentalisierung der Geschlechterbeziehung. Alma Schindler,
spätere Alma Mahler-Werfel trug JGB 123 im Alter von 20 Jahren am 3. Januar
1900 in ihr Tagebuch ein und kommentierte: „Das finde ich meisterhaft“ (Mah-
ler-Werfel 1997, 416, vgl. NK 98, 5-7).
124.
94, 22-95, 2 Wer auf dem Scheiterhaufen noch frohlockt, triumphirt nicht über
den Schmerz, sondern darüber, keinen Schmerz zu fühlen, wo er ihn erwartete.
Ein Gleichniss.] Zu diesem „Gleichniss“ gibt es im Nachlass keine Vorlage (vgl.
aber FW Vorrede 3, KSA 3, 350, 9 f.). In Jean-Marie Guyaus Esquisse d’une mora-
le sans Obligation ni sanction (1885) hat N. eine Passage markiert und für „gut“
befunden, die ausführt, dass nicht der Schmerz das Schrecklichste für den
Menschen sei, sondern die Untätigkeit, und dass mit der Überwindung des
Schmerzes ein besonderer Genuss verbunden sei (Guyau 1909, 282). Dass das
Martyrium zugunsten der richtigen Überzeugung einen Triumph darstelle, ist
eine in allen christlichen Konfessionen verbreitete Auffassung, die sich im
19. Jahrhundert beispielsweise wirkmächtig im Titel von Frangois-Rene, Vicom-
te de Chateaubriands Les martyrs ou Le triomphe de la religion chretienne (1809)
manifestiert hat. (AC 53 sollte dagegenhalten, das Martyrium beweise nichts
für Wahrheit oder Wert einer Überzeugung, vgl. NK KSA 6, 234, 16-18.) Dass
das Publikum statt aus Bosheit aus frommer Hingabe frohlockt, wenn jemand
verbrannt wird, ist ein in Martyrologien verbreitetes Motiv, besonders auch in
den erwecklichen Berichten über protestantische Blutzeugen, die seit dem
16. Jahrhundert kursierten. So wird etwa über den 1555 hingerichteten Englän-
der Thomas Haux berichtet: „Nach ihm sollten einige andere Protestanten ver-
brannt werden, die nicht, wie er, gleichen Glaubensmuth hatten; diese er-
 
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