Metadaten

Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0457
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Stellenkommentar JGB 125, KSA 5, S. 94-95 437

mahnte er nun, und versprach ihnen, wenn er im Feuer sich befinde, durch
Erhebung seiner Hände ein Zeichen zu geben, daß für den Gläubigen der Feu-
ertod nichts Schreckhaftes und nichts allzu Schmerzhaftes habe. Auf der Ge-
richtsstätte [...] ward er an den Pfahl gefesselt und der Scheiterhaufen angezün-
det. Schon war er am ganzen Leibe verbrannt, seine Haut von der Hitze zusam-
mengeschrumpft, als er, sich seines Versprechens erinnernd, die beiden Hände
erhob, was mit großem Frohlocken der ganzen Menge ist angesehen worden.
Hierauf neigte er das Haupt und entschlief“ (Möhrlen 1845, 2, 312, vgl. zu ei-
nem ausdrücklich auf dem Scheiterhaufen triumphierenden Märtyrer ebd.,
384). Derlei vielfach kolportierte und variierte Berichte dürften N. aus dem pro-
testantisch-pietistischen Familienkontext wohlbekannt gewesen sein; sein
„Gleichniss“ nimmt die Vorstellung auf, dass der zur Verbrennung Bestimmte
überraschenderweise keine Schmerzen leiden müsse und schreibt ihm selbst,
nicht den Zuschauern, deswegen das Frohlocken zu.
Deutet man diesen Bericht gemäß der nachgestellten Lektüreanweisung
als „Gleichniss“, dann geht es offensichtlich nicht um ein wörtlich verstande-
nes Martyrium, sondern darum, dass jemand äußerst beharrlich bei seinem
Handeln bleibt und - wie Giordano Bruno oder Wagners Brünnhilde in der
Götterdämmerung den Scheiterhaufen bewusst wählend - auch verheerende,
selbstzerstörerische Konsequenzen bejaht. Nur taucht im Unterschied zum
christlichen Martyrium jetzt kein Gott mehr auf, der das Leiden an diesen Kon-
sequenzen lindert, sondern die Selbsttreue scheint diesem Leiden vorzubeu-
gen. Auch in einer gottlosen Welt kann Überzeugung leidbewältigend wirken.
Zur Interpretation von JGB 124 siehe auch Häntzschel-Schlotke 1967, 90.
125.
95, 4 f. Wenn wir über Jemanden umlernen müssen, so rechnen wir ihm die Un-
bequemlichkeit hart an, die er uns damit macht.] Die Vorstufe in NL 1882, KSA
10, 3[1]428,105, 4-6 ist etwas umständlicher formuliert: „Wenn man über einen
Menschen umlernen muß, so rechnet man ihm die Unbequemlichkeit, die er
einem damit macht, hart an.“ (Vgl. die Textvarianten in KGW VII 4/1, 104.) N.
hegte eine Vorliebe für das im Deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm seltsa-
merweise nicht verzeichnete, aber schon im 18. Jahrhundert vielfach belegte
Verb „umlernen“, gegen das er erstmals in UBIIISE 6, KSA 1, 395, 21-24 intuiti-
ve Widerstände beim Publikum namhaft machte: „Und weil alles Neue ein Um-
lernen nöthig macht, so verehrt die Biederkeit, wenn es irgend angeht, die alte
Meinung und wirft dem Verkündiger des Neuen vor, es fehle ihm der sensus
recti.“ Nicht nur im Blick auf Schopenhauer, sondern auch im Blick auf Wag-
ner galt N. das Umlernen als Gebot der Stunde: Man müsse „völlig umlernen
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften