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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0459
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Stellenkommentar JGB 127, KSA 5, S. 95 439

127.
95,11-13 Allen rechten Frauen geht Wissenschaft wider die Scham. Es ist ihnen
dabei zu Muthe, als ob man damit ihnen unter die Haut, — schlimmer noch!
unter Kleid und Putz gucken wolle.] Zu JGB 127 gibt es keine direkte Vorlage im
Nachlass; der Gedanke wird dafür in JGB 204 wieder aufgenommen, wonach
„Frauen und Künstler gegen die Wissenschaft [...] reden (,ach, diese schlim-
me Wissenschaft! seufzt deren Instinkt und Scham, sie kommt immer dahin-
ter!4 — )“ (KSA 5, 129, 14-16). Das Thema der Scham ist schon zu Beginn des
Vierten Hauptstücks präsent, so in JGB 65 u. 66, vgl. NK 85, 11 f.
Die Verbindung der Motivkomplexe von Frau und Scham trat bei N., wie
Tongeren 2007,138 f. feststellt, etwa von 1880 an auf, und zwar mit einem star-
ken Akzent auf der Genitalscham. Im Spätwerk scheint N. für eine Überwin-
dung der Scham plädieren zu wollen (vgl. JGB 65), die freilich JGB 127 den
Frauen (in ihrer spezifisch europäisch sozialisierten Form?) nicht zutraue (vgl.
Tongeren 2007, 142 f.) - und JGB 204 auch den Künstlern nicht. Planckh 1998,
230 f. gibt zu JGB 127 hingegen zu bedenken, dass offen bleibe, „ob sich der
Wissenschaftler dem Urteil der »rechten Frauen4 anschließen solle, oder ob die-
se Scham falsch ist und überwunden werden muß44. Im Horizont der Wissen-
schaftskritik statt als Ausdruck von Misogynie liest Smitmans-Vajda 1999,102 f.
den Abschnitt JGB 127.
Bereits im frühen 18. Jahrhundert hat Madame de Lambert in ihren Refle-
xions sur les femmes die These aufgestellt, dass die Verbindung von Scham und
Wissen bei den Frauen keineswegs naturgegeben sei, sondern sich vielmehr
einem spezifischen (und verderblichen) kulturellen Einfluss verdanke, der dem
weiblichen Geschlecht die Wissenschaft so schambesetzt erscheinen lasse wie
die schlimmsten Laster: „Moliere en France a fait le meme desordre par sa
comedie des Femmes savantes. Depuis ce temps-lä, on a attache presque autant
de honte au savoir des femmes qu’aux vices qui leur sont le plus defendus.
Lorsqu’elles se sont vues attaquees sur des /147/ amusemens innocens, elles
ont compris que, honte pour honte, il falloit choisir celle qui leur rendoit da-
vantage, et elles se sont livrees aux plaisirs.“ (Lambert 1883, 146 f. „In Frank-
reich hat Moliere die gleiche Unordnung durch seine Komödie Femmes savan-
tes angerichtet. Seit dieser Zeit hat man dem Wissen der Frauen fast ebensoviel
Scham/Schande zugeschrieben wie den Lastern, die an ihnen am meisten ver-
teidigt werden. Als sie sich angegriffen gesehen haben wegen /147/ unschuldi-
ger Unterhaltungen, haben sie verstanden, dass sie, Scham/Schande für
Scham/Schande, jene wählen müssten, die ihnen mehr Nutzen brächte, und
sie haben sich den Vergnügungen ausgeliefert.44) Um 1880 wurde diese Er-
kenntnis der Madame de Lambert unter französischen Intellektuellen erneut
diskutiert (vgl. z. B. Lescure 1881, 31), so dass N. JGB 127 durchaus bewusst
 
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