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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0461
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Stellenkommentar JGB 129, KSA 5, S. 95 441

raus, seine Zuflucht zum Gefühl zu nehmen, indem er das Ansehn fürchtete,
als habe er zur Wahrheit verführen wollen. Er hatte aber Unrecht; denn in
Gegenständen dieser Art ist das Gefühl die Wahrheit selbst.“ (Stael 1815, 3,
52 f.) Die Verführerrolle ist also auch hier dem Philosophen unbehaglich -
umso charakteristischer ist sie für das neue Verständnis von Philosophie, das
N. anbietet. Gauger 1984, 340 und Renzi 1997a, 334 finden namentlich in Ecce
homo die in den Nachlassaufzeichnungen und JGB 128 formulierten Stilvorga-
ben praktisch realisiert.
129.
95, 18-20 Der Teufel hat die weitesten Perspektiven für Gott, deshalb hält er
sich von ihm so fern: — der Teufel nämlich als der älteste Freund der Erkennt-
niss.] Die teuflischen „Perspektiven für Gott“ kamen erstmals in den Tauten-
burger Aufzeichnungen für Lou von Salome zur Sprache, und zwar in einer
Aufzeichnung unter dem Titel „Zur Philosophie der Wiederkunft“
(NL 1882, KSA 10, l[70], 27,16): „ich habe den ganzen Gegensatz einer religi-
ösen Natur absichtlich ausgelebt. Ich kenne den Teufel und seine Per-
spektiven für Gott.“ (KSA 10, l[70], 28, 10-12) In NL 1882, KSA 10, 3[l]5O,
59, 10-12 sind die Überlegungen bereits aphoristisch verdichtet und dekontex-
tualisiert: „Der Teufel hat die besten Perspektiven für Gott: deshalb hält er sich
von ihm so ferne — er ist nämlich ein Freund der Erkenntniß.“ Von dieser
Fassung etwas weiter entfernt ist NL 1883, KSA 10, 22[3], 622,10 f.: „Der Teufel,
der ein Freund der Erkenntniß, hält sich von Gott fern: erst aus der Ferne hat
man den Blick für Götter.“ (Vgl. auch NL 1884/85, KSA 11, 31[38], 375, 17 f.) Als
N. schließlich die Überlegung Zarathustra in den Mund legte, weicht Erkennt-
nis dem entgegengesetzten „schönen Schein“: „Zarathustra: man muß seinen
Gott aus der Ferne sehen: nur so nimmt er sich gut aus. Darum hält sich der
Teufel von Gott fern, denn er ist ein Freund des schönen Scheins.“ (NL 1884/
85, KSA 11, 31[46], 381, 18-20).
Dass der Teufel der „älteste Freund der Erkenntniss“ sei, folgt aus der
christlichen Tradition, die die Schlange im Paradies, die Eva und Adam mit
der Frucht vom Baum der Erkenntnis versorgt (Genesis 3), mit dem Teufel
identifiziert. In dieser Tradition war freilich die explizite Charakterisierung
des Teufels als „Freund der Erkenntniss“ nicht üblich, zumal der Teufel hier
niemandes Freund sein kann. Nachweisbar ist die Wendung hingegen zur
Charakterisierung des Philosophen in den platonischen Dialogen; N. könnte
ihr beispielsweise bei der Lektüre von Franz Susemihls Buch Die genetische
Entwicklung der platonischen Philosophie begegnet sein (Susemihl 1857, 2/2,
177; zu N.s Susemihl-Rezeption siehe NK KSA 6, 71, 8f.). Auch dass der
 
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