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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0462
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442 Jenseits von Gut und Böse

Teufel in größtmöglicher Gottferne lebe, gehört zum Kernbestand christlicher
Teufelserkenntnis. Für N. wurde daraus ein Vorteil, weil der Schluss nahe-
liegt, dass der Teufel aus dieser größtmöglichen Distanz den Gotteskomplex
am großflächigsten überblickt, Gott am besten erkennt. Deshalb überrascht
es kaum, dass das „Wir“ in NL 1887, KSA 12, 10[105], 514, 21 (entspricht
KGW IX 6, W II 2, 67, 44-46) sich ausdrücklich als „Ehrenretter des Teufels“
darstellt. Sich die Götter in äußerster Distanz zu den Menschen zu denken,
ist eine Vorstellung, die insbesondere auf Epikur zurückverweist, vgl. NK 82,
34-83, 16. Epikur und N. teilen das Interesse, religiöse Zumutungen zu
neutralisieren.
In seiner Rezension von JGB für die Deutsche Litteraturzeitung vom
30.10.1886 zitiert Gustav Glogau JGB 129 als Beleg für „einen vornehmeren
Pessimismus“ (Reich 2013, 632).

130.
95, 22-96, 2 Was Jemand ist, fängt an, sich zu verrathen, wenn sein Talent
nachlässt, — wenn er aufhört, zu zeigen, was er kann. Das Talent ist auch ein
Putz; ein Putz ist auch ein Versteck.] In den Tautenburger Aufzeichnungen fin-
det sich der Kern des Gedankens: „Wenn die Talente nachlassen, werden die
moralischen Eigenschaften eines Manschen} sichtbarer.“ (NL 1882, KSA 10,
1[93], 33, lf.; in N V 9, 198 steht „abnehmen“ statt „nachlassen“ - KGW VII 4/
1, 50). Die Fassung in NL 1882, KSA 10, 3[1]3, 54, 8-10 ist bereits ausführlicher:
„Wenn die Talente eines Menschen nachlassen, werden seine moralischen Ei-
genschaften sichtbarer; und nicht immer sind es Sterne, die bei dieser einbre-
chenden Nacht sichtbarer werden.“ Die von N. gern und oft gebrauchte Ster-
nenmetapher fordert in der Fassung NL 1883, KSA 10, 12[1]121, 393, 16-19 eine
Anpassung im Eingangssatz: „Wenn das Talent eines Menschen sich verdun-
kelt, werden seine moralischen Eigenschaften sichtbarer: und nicht immer sind
es Sterne, die dabei sichtbar werden.“ (Ursprünglich lautete diese Fassung
„Wenn die Talente eines Manschen} nachlassen, werden die moralischen Ei-
genschaften sichtbarer: und nicht immer werden - Sterne dabei sichtbarer.“
KGW VII 4/1, 222. Vgl. auch NL 1883, KSA 10, 22[1], 619, 13-15.) Die Sternenme-
taphorik entfällt in der Fassung letzter Hand, wo stattdessen mit dem Motiv
des Putzes eine Verbindung zu JGB 127 und JGB 145 hergestellt wird. Vor allem
aber fällt auf, dass in JGB 130 anders als in den Nachlass-Notaten die Moralität
der Eigenschaften, die durch das Nachlassen des Talents zum Vorschein kom-
men sollen, nicht mehr thematisiert wird, als ob damit der Fokus getreu dem
Werktitel auf einen Bereich „jenseits von Gut und Böse“ verlagert werden solle.
 
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