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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0482
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462 Jenseits von Gut und Böse

152.
99,17 f. „Wo der Baum der Erkenntniss steht, ist immer das Paradies“: so reden
die ältesten und die jüngsten Schlangen.] In der Vorstufe fehlen nicht nur die
Anführungszeichen, sondern auch der Rahmen, der die Sprecher des Satzes in
JGB 152 kenntlich macht: „Wo der Baum der Erkenntniß steht, ist immer noch
das Paradies.“ (NL 1882, KSA 10, 3[1]134, 69, 14 f. Die erste Fassung lautete
noch lapidarer: „Der Baum der Erkenntniß steht im Paradies.“ KGW VII 4/1,
72.) Der isolierten Version 3[1]134 war keine erkenntniskritische oder erkennt-
nisproblematisierende Komponente anzusehen, obwohl die Sentenzen in ihrer
Umgebung sowohl die angebliche Selbstzweckhaftigkeit der Erkenntnis als
moralischen Fallstrick denunzierten (NL 1882, KSA 10, 3[1]133, 69, 8-10) als
auch die Moral als Sündenfall verdächtigten (NL 1882, KSA 10, 3[1]135, 69,16 f.,
vgl. NK 9,1). Dass es mit einem naiven Erkenntnisoptimismus im Stile mancher
Aufklärungsphilosophen bei N. nicht mehr weit her war, war seinen Lesern
spätestens seit dem prominenten ersten Aphorismus in MA II WS geläufig, der
klar macht, dass vom Erkenntnisbaum keine ewig haltbaren, unverderblichen
Wahrheitsfrüchte zu ernten sind: „Vom Baum der Erkenntniss. — Wahr-
scheinlichkeit, aber keine Wahrheit: Freischeinlichkeit, aber keine Freiheit, —
diese beiden Früchte sind es, derentwegen der Baum der Erkenntniss nicht mit
dem Baum des Lebens verwechselt werden kann.“ (MA II WS 1, KSA 2,540,2-6).
Dass das Naschen vom Baum der Erkenntnis (Genesis 2,17) trotz des Drän-
gens der (christlicherseits mit dem Teufel assoziierten) Schlange keine erfreuli-
chen Konsequenzen zeitigt, ist eine Erfahrung, die bereits das Urelternpaar
nach Genesis 3 gemacht haben soll. JGB 152 scheint sich von den „Schlangen“
distanzieren zu wollen, die die Erkenntnis für glücksträchtig ausgeben - zu
den „jüngsten Schlangen“ gehören damit auch jene Philosophen, die im Gefol-
ge des Sokrates propagieren, dass Erkenntnis Glück hervorbringe - bis hin zu
den zeitgenössischen Utilitaristen und Positivisten, die an ein Goldenes Zeit-
alter der Wissenschaft glauben. Relativiert wird die in JGB 152 angedeutete
Distanzierung von den Schlangen allerdings dadurch, dass N. in seiner Retrak-
tation von JGB in Ecce homo just diese Metapher von der Paradiesschlange auf-
nehmen und mit Gott sowie mit sich selbst identifizieren sollte, um den Erho-
lungscharakter des Werkes nach Za deutlich zu machen (EH JGB 2, vgl. dazu
mit Quellenbelegen NK KSA 6, 351, 22-27), aber vielleicht auch, um einen Zu-
stand jenseits von Gut und Böse zu versprechen, nachdem der Sündenfall die
Moral - Gut und Böse - in die Welt gebracht hatte (vgl. NK 9, 1).
153.
99, 20 f. Was aus Liebe gethan wird, geschieht immer jenseits von Gut und
Böse.] Zu dieser Sentenz findet sich keine direkte Vorarbeit im Nachlass. Die
 
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