464 Jenseits von Gut und Böse
spruch angemeldet (vgl. z. B. NL 1884, KSA 11, 26[429], 265, 21-23: „Aus dem
Unbedingten kann nichts Bedingtes entstehen. Nun aber ist alles, was wir ken-
nen, bedingt. Folglich giebt es gar kein Unbedingtes, es ist eine überflüssige
Annahme.“ Afrikan Spir, an den diese Überlegung anklingt, hatte den falschen
Schluss vom Unbedingten auf das Bedingte kritisiert, weil man vom Unbeding-
ten fast nichts wissen und damit auch keine Kausalrelation zwischen ihm und
dem Bedingten etablieren könne: „Die fundamentale Voraussetzung der Meta-
physiker ist, dass das Unbedingte den zureichenden Grund des Bedingten ent-
halte; sie machen es daher zu ihrer Hauptaufgabe, das Bedingte aus dem Un-
bedingten abzuleiten. Allein der Schluss auf die Ursache oder die Bedingung
kann nie über die Erfahrung hinausführen und nie das Unbedingte errei-
chen“ - Spir 1877,1,293; von N. mit Randstrich markiert. Vgl. z. B. auch Dickopp
1965, 92, Heller 1972b, 175 u. Gasser 1997, 687. N.s Text überbietet Spir, indem
er das Unbedingte selbst kassiert).
Unabhängig von fundamentalphilosophischen Fragen nach einem Unbe-
dingten und dessen Verhältnis zum Bedingten grassierte in moralischen und
ästhetischen Belangen die Rede von einem „unbedingten Streben“. August
Wilhelm Schlegel zum Beispiel hielt „das unbedingte Streben“ für „ein Haupt-
kennzeichen der künstlerischen Begeisterung“ und wusste „außer dem Gegen-
stände derselben, dem Schönen, nur zwei Gegenstände eines unbedingten
Strebens für den Menschen“ auszumachen, „nämlich das Wahre und das Gute“
(Schlegel 1828, 1, 166). Gegen einen solchen Unbedingtheitsenthusiasmus hat
sich Goethe in seinen Maximen und Reflexionen zur Wehr gesetzt: „Unbedingte
Thätigkeit, von welcher Art sie sey, macht zuletzt bankerott.“ (Goethe 1853-
1858, 3, 142. In N.s Handexemplar links unten Eselsohr.) Dazu stellt der Nach-
satz von 3[1]143 (und JGB 154) eine Variation dar. Zur Metapher des Seiten-
sprungs siehe auch NK KSA 6, 58, 5-7.
155.
100, 6 f. Der Sinn für das Tragische nimmt mit der Sinnlichkeit ab und zu.] Direk-
ter auto(r)biographisch - man denke an N.s frühe Studien zur Tragödie und
namentlich an GT - klingt die erste Fassung in NL 1882, KSA 10, 3[l]140, 70,
5f.: „Die Neigung zum Tragischen nimmt mit der Sinnlichkeit ab oder zu: sie
gehört jedem Jüngling und jungen Manne.“ Eine Verbindung zwischen der
Sinnlichkeit und der Entdeckung des Tragischen postuliert ein Notat von 1884
aber auch für die kulturelle Entwicklung der antiken Griechen: „Die Ver-
Griechung einmal darstellen als Roman. Rückwärts — auch die Sinnlichkeit,
immer höher strenger. Endlich bis zur Offenbarung des Dionysischen. Entde-
ckung des Tragischen: ,Bock und Gott‘.“ (NL 1884, KSA 11, 25[1O1], 37, 16-
spruch angemeldet (vgl. z. B. NL 1884, KSA 11, 26[429], 265, 21-23: „Aus dem
Unbedingten kann nichts Bedingtes entstehen. Nun aber ist alles, was wir ken-
nen, bedingt. Folglich giebt es gar kein Unbedingtes, es ist eine überflüssige
Annahme.“ Afrikan Spir, an den diese Überlegung anklingt, hatte den falschen
Schluss vom Unbedingten auf das Bedingte kritisiert, weil man vom Unbeding-
ten fast nichts wissen und damit auch keine Kausalrelation zwischen ihm und
dem Bedingten etablieren könne: „Die fundamentale Voraussetzung der Meta-
physiker ist, dass das Unbedingte den zureichenden Grund des Bedingten ent-
halte; sie machen es daher zu ihrer Hauptaufgabe, das Bedingte aus dem Un-
bedingten abzuleiten. Allein der Schluss auf die Ursache oder die Bedingung
kann nie über die Erfahrung hinausführen und nie das Unbedingte errei-
chen“ - Spir 1877,1,293; von N. mit Randstrich markiert. Vgl. z. B. auch Dickopp
1965, 92, Heller 1972b, 175 u. Gasser 1997, 687. N.s Text überbietet Spir, indem
er das Unbedingte selbst kassiert).
Unabhängig von fundamentalphilosophischen Fragen nach einem Unbe-
dingten und dessen Verhältnis zum Bedingten grassierte in moralischen und
ästhetischen Belangen die Rede von einem „unbedingten Streben“. August
Wilhelm Schlegel zum Beispiel hielt „das unbedingte Streben“ für „ein Haupt-
kennzeichen der künstlerischen Begeisterung“ und wusste „außer dem Gegen-
stände derselben, dem Schönen, nur zwei Gegenstände eines unbedingten
Strebens für den Menschen“ auszumachen, „nämlich das Wahre und das Gute“
(Schlegel 1828, 1, 166). Gegen einen solchen Unbedingtheitsenthusiasmus hat
sich Goethe in seinen Maximen und Reflexionen zur Wehr gesetzt: „Unbedingte
Thätigkeit, von welcher Art sie sey, macht zuletzt bankerott.“ (Goethe 1853-
1858, 3, 142. In N.s Handexemplar links unten Eselsohr.) Dazu stellt der Nach-
satz von 3[1]143 (und JGB 154) eine Variation dar. Zur Metapher des Seiten-
sprungs siehe auch NK KSA 6, 58, 5-7.
155.
100, 6 f. Der Sinn für das Tragische nimmt mit der Sinnlichkeit ab und zu.] Direk-
ter auto(r)biographisch - man denke an N.s frühe Studien zur Tragödie und
namentlich an GT - klingt die erste Fassung in NL 1882, KSA 10, 3[l]140, 70,
5f.: „Die Neigung zum Tragischen nimmt mit der Sinnlichkeit ab oder zu: sie
gehört jedem Jüngling und jungen Manne.“ Eine Verbindung zwischen der
Sinnlichkeit und der Entdeckung des Tragischen postuliert ein Notat von 1884
aber auch für die kulturelle Entwicklung der antiken Griechen: „Die Ver-
Griechung einmal darstellen als Roman. Rückwärts — auch die Sinnlichkeit,
immer höher strenger. Endlich bis zur Offenbarung des Dionysischen. Entde-
ckung des Tragischen: ,Bock und Gott‘.“ (NL 1884, KSA 11, 25[1O1], 37, 16-