Metadaten

Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0490
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
470 Jenseits von Gut und Böse

wohl er sie nicht wie Hartmann direkt mit dem Egoismus assoziiert. N. hinge-
gen spielt mit dem Gedanken, sich der Macht dieses dominierenden Triebes
zu unterwerfen - erstaunlich ähnlich dem Gestus, mit dem sich Epiktet Gott
unterwirft.
Aufgenommen wurde N.s Metapher vom „Tyrannen in uns“ und von der
selbstquälerischen Grausamkeit, natürlich ohne Quellenangabe (vgl. Sommer
2000a, 17, Fn. 7), von Emil M. Cioran: „Nous, simples mortels, qui ne pouvons
nous permettre le luxe d’etre cruels ä l’egard d’autrui, c’est sur nous, sur notre
chair et sur notre esprit, que nous devons exercer et soulager nos terreurs. Le
tyran en nous tremble: il lui faut agir, se decharger de sa rage, se venger; et
c’est sur nous qu’il se venge.“ (Cioran 1974, 196. „Wir einfachen Sterblichen,
die wir uns den Luxus nicht erlauben können, gegenüber anderen grausam zu
sein, müssen auf uns, auf unser Fleisch und auf unseren Geist unser Schre-
ckensregiment ausüben und erleichtern. Der Tyrann in uns zittert: er muss
handeln, sich seiner Wut entladen, sich rächen; und an uns rächt er sich.“)
Zum Thema des inneren Tyrannen bei N. siehe auch Brusotti 1997, 515 f.
159.
100,18f. Man muss vergelten, Gutes und Schlimmes: aber warum gerade an
der Person, die uns Gutes oder Schlimmes that?] Wortwörtlich findet sich diese
Sentenz bereits in NL 1882, KSA 10, 3[1]185, 75, 11 f. Ursprünglich folgten dort
noch die von N. schließlich gestrichenen Ansätze: „Ich übe mich im Absehen
von diesen Ich liebe die Dies ist noch thierisch.“ (KGW VII 4/1, 77) JGB 159
scheint zunächst eine Opposition gegenüber der jüdisch-christlichen Moraltra-
dition zu markieren, insofern sie verbot, Gutes mit Bösem zu vergelten (Jeremia
18, 20, vgl. Psalm 38, 20 f.), verbunden mit der Drohung, dann des Guten nie
teilhaftig zu werden: „Wer Gutes mit Bösem vergilt, von deß Hause wird Böses
nicht lassen.“ (Sprüche 17,13. Die Bibel: Altes Testament 1818, 641) Auch Böses
(mit Bösem) zu vergelten, wurde zu etwas Unziemlichem erklärt: „Sprich nicht:
Ich will das Böse vergelten. Harre des HErrn, der wird dir helfen.“ (Sprüche 20,
22. Die Bibel: Altes Testament 1818, 644; parallel zu den jüdisch-christlichen
Zeugnissen gibt es für die Weisheit, Schlimmes nicht mit Schlimmem zu vergel-
ten, auch heidnische Belege, vgl. z. B. Plutarch: De vitioso pudore 13.) In der
Radikalisierung dieser Morallehre forderte Jesus bekanntlich in der Bergpre-
digt, dem Bösen gar keinen Widerstand zu leisten (Matthäus 5, 39, vgl. auch 5,
44 u. z. B. Römer 12, 17-20; 1. Thessalonicher 5, 15; 1. Petrus 3, 9). Das spitzte
sich schließlich zur Forderung zu, Böses mit Gutem zu vergelten: „Laß dich
nicht das Böse überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem.“ (Römer
12, 21. Die Bibel: Altes Testament 1818, 193).
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften