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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0491
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Stellenkommentar JGB 160, KSA 5, S. 100 471

Die Formulierung in JGB 159 indiziert dagegen allerdings keine Rückkehr
zum älteren ius talionis, das Gleiches mit Gleichem vergilt (vgl. Exodus 21, 23-
25) - es wird mitnichten explizit gesagt, dass Schlimmes wiederum mit Schlim-
mem vergolten werden müsse. Dass das von Christen gemeinhin beschworene
Böse durch das weniger moralisch konnotierte Schlimme ersetzt wird, verrät
das Bemühen, sich jenseits der hergebrachten (christlichen) Moral zu positio-
nieren. Die Pointe der Sentenz besteht darin, das Schwergewicht von den Fra-
gen wegzuverlagern, mit denen die Vergeltung in der Moraldiskussion bislang
belastet war, nämlich erstens von der Frage, wer vergelten darf und zweitens
von der Frage, ob man Gleiches mit Gleichem oder auch Gleiches mit Unglei-
chem vergelten dürfe. Implizite Voraussetzung dieser beiden Fragen war stets
die Annahme, dass der ursprüngliche Täter, also der Verursacher von guter
oder schlimmer Einwirkung, auch der Adressat der Vergeltung sein müsse. JGB
159 kassiert diese Voraussetzung und lässt damit die Vergeltung, die sich
gleichsam überall und an jedermann entladen kann, nicht mehr als eine spezi-
fisch gerichtete, sondern als eine quasi-natürliche Reaktion auf einen äußeren
Einfluss erscheinen. Die Reaktion muss dabei wie bei einem beliebigen physi-
kalischen Prozess keineswegs zurückwirken auf den ursprünglichen Akteur,
sondern kann in irgendeine beliebige Richtung verlaufen. JGB 159 lässt sich
somit als eine metaethische Beobachtung menschlichen Handelns verstehen:
Selten genug werden die Verursacher eines Leidens direkt zur Rechenschaft
gezogen; vielmehr reagiert der Leidende seine durch das Leiden verursachte
Aggression gewöhnlich an Schwächeren ab.
160.
100, 21 f. Man liebt seine Erkenntniss nicht genug mehr, sobald man sie mit-
theilt.] In NL 1882, KSA 10, 2[26], 48, 4f. wird skandiert: „Es ist in der Mitthei-
lung einer Erkenntniß immer etwas Verrath.“ Wörtlich vorweggenommen ist
JGB 160 in NL 1882, KSA 10, 3[1] 191, 75, 24 f. Dabei wird der explizite Verrat von
2[26] in einer eigenen Sentenz separiert: „Ob du dich oder mich verräthst, du
gehörst zu den Verräthern. An die Schriftsteller.“ (NL 1882, KSA 10,
3[1]194, 76, 5f. Nach KGW VII 4/1, 78 von N. schließlich durchgestrichen.) Die-
sen Gedanken treibt eine Aufzeichnung aus den Vorarbeiten zu Za IV noch
weiter, die freilich nicht in den Drucktext aufgenommen wurde: „Sprachst du
von dir oder von mir? Aber ob du nun mich oder dich verriethest, du gehörst
zu den Verräthern, du, der Dichter! / — schamlos gegen das, was du lebtest,
dein Erlebniß ausbeutend, dein Geliebtestes zudringlichen Augen preisgebend,
dein Blut in alle trocken ausgetrunknen Becher eingießend, du Eitelster!“ (NL
1884/85, KSA 11, 31[6], 360, 13-18, vgl. NK 101, 2f.) Die Assoziation von Dich-
 
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