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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0495
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Stellenkommentar JGB 164, KSA 5, S. 101 475

an!“ —] In NL 1882, KSA 10, 3[1]68, 61, 20 f. waren noch die „Menschen“ über-
haupt die Adressaten der Ansprache, „Gesetz“ und „Knechte“ fehlten: „Jesus
sagte zu den Menschen: ,liebt Gott, wie ich ihn liebe, als sein Sohn: was geht
uns Söhne Gottes die Moral an!‘“ Auch die vorangehende Aufzeichnung wid-
mete den vermeintlichen Religionsstifter zum immoralistischen freien Geist um
(vgl. NK KSA 6, 204, 3f.): „Jesus von Nazareth liebte die Bösen, aber nicht die
Guten: der Anblick von deren moralischer Entrüstung brachte selbst ihn zum
Fluchen. Überall wo gerichtet wurde, nahm er Partei gegen die Richtenden: er
wollte der Vernichter der Moral sein.“ (NL 1882, KSA 10, 3[1]67, 61,16-19) In NL
1882/83, KSA 10, 4[42], 120, 15-121, 18 baute N. das angebliche Jesus-Wort in
eine Liebesgeschichte zwischen Gott und Menschen ein, die Gott und die Men-
schen gleichermaßen an dieser Liebe scheitern lässt. In der Mitte dieser Ge-
schichte von dem in die Menschen verliebten Gott heißt es: „Was that dieser
alte rechtschaffne Gott? Er überredete ein menschliches Weib, daß es ihm ei-
nen Sohn gebäre: und dieser Sohn Gottes rieth den Menschen nichts als dies:
,liebt Gott! wie ich ihn liebe! Was gehen uns Söhne Gottes die Guten und Ge-
rechten an!‘“ (KSA 10,120, 21-121, 2). Den Immoralismus der Liebe betont auch
JGB 153, allerdings noch ohne ihn dem von den Christen als Sohn Gottes ver-
ehrten Jesus von Nazareth in den Mund zu legen, vgl. NK 99, 20 f. JGB 269, KSA
5, 225,1-16 stilisiert Jesu Tod in einer immoralistischen Version der christlichen
Passionsidee zum „Martyrium des Wissens um die Liebe“ (KSA 5, 225,
3f.), was auf der Linie von NL 1882/83, KSA 10, 4[154], 159, 6 liegt: „Ein Ebräer
Namens Jesus war bisher der beste Liebende.“
Das Jesus unterstellte Logion von JGB 164 ist zunächst eine Parodie von
Jesu doppeltem Liebesgebot in Matthäus 22, 37-39: „JEsus aber sprach zu ihm:
,Du sollst lieben GOtt, deinen HErrn, von ganzem Herzen, von ganzer Seele,
und von ganzem Gemüthe? Dis [sic] ist das vornehmste und größte Gebot. Das
andere aber ist dem gleich: ,Du sollst deinen Nächsten lieben als dich selbst/“
(Die Bibel: Neues Testament 1818, 31) Ein Vergleich der Gottesliebe der Adres-
saten mit der Gottesliebe des Sprechers fehlt hier; eine Vergleichsfigur kommt
erst beim zweiten Gebot der Nächstenliebe ins Spiel. Auf die Formulierung von
JGB 164 hat mit der (im Unterschied zu den Vorstufen in NL 1882/83) ausdrück-
lichen Erwähnung von „Gesetz“ und „Knechten“ das 15. Kapitel des Johannes-
Evangeliums eingewirkt, das sich allerdings nicht damit beschäftigt, wie die
Menschen Gott zu lieben haben, sondern damit, wie sie von Gott geliebt wer-
den und wie sie sich untereinander lieben sollen. Vergleichsfiguren werden da
unentwegt benutzt: „Gleichwie mich mein Vater liebet, also liebe Ich euch
auch. Bleibet in meiner Liebe.“ (Johannes 15, 9. Die Bibel: Neues Testament
1818, 131) Und weiter: „Das ist mein Gebot, dass ihr euch untereinander liebet,
gleichwie ich euch liebe. Niemand hat größere Liebe, denn die, daß er sein
 
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