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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0503
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Stellenkommentar JGB 174, KSA 5, S. 102-103 483

zu entscheiden, ob man einen anderen um dessen Wohl willen (nach Schopen-
hauer wäre einzig das moralisch) oder aber um des eigenen Wohls willen (also
egoistisch) liebt. Der Witz von JGB 172 besteht darin, den landläufigen Ver-
dacht umzukehren, eine Handlung scheine nur uneigennützig-moralisch, sei
jedoch in Wahrheit eigennützig-unmoralisch. Vielmehr äußert der Text gegen-
über einer vermeintlich eigennützig-unmoralischen Handlung (der Liebe zu ei-
nem anderen um des eigenen Wohls willen) den Verdacht, sie geschehe tat-
sächlich „aus Menschenliebe“, also aus moralischem Grund. Angesichts der
Zurückweisung dieser Moral des Mitleids und der Selbstentäußerung, gilt das
von Schopenhauer für moralisch Gehaltene gerade als das eigentlich Anrü-
chige.
173.
102, 20 f. Man hasst nicht, so lange man noch gering schätzt, sondern erst, wenn
man gleich oder höher schätzt.] In NL 1882, KSA 10, 3[1]318, 91, 24 f. heißt es:
„Man haßt nicht, wenn man gering schätzt, sondern nur indem man gleich
und hoch schätzt.“ Das widerspricht direkt der klassischen Definition von Ge-
ringschätzung (despectus) bei Spinoza: „Despectus est de aliquo prae odio mi-
nus justo sentire.“ („Geringschätzung ist, wenn man von einem anderen aus
Hass weniger hält als gerecht ist.“ Baruch de Spinoza: Ethica ordine geometrico
demonstrata III, Affectuum definitiones 22). Die dazu gegebene Erklärung ist
unmissverständlich: „Est itaque existimatio amoris et despectus odii effectus“
(„Die Schätzung ist deshalb eine Wirkung der Liebe, die Geringschätzung eine
Wirkung des Hasses“. Ebd., Affectuum definitiones 22, explicatio). Da N. Spino-
za bekanntlich nicht im Original gelesen, sondern ihn sich ab 1881 über den
Umweg des einschlägigen Bandes von Kuno Fischers Geschichte der neuern
Philosophie angeeignet hat (vgl. Sommer 2012b), dürfte man dort die direkte
Quelle zu suchen haben: „So erzeugt die Liebe die übermäßige Schät-
zung (existimatio), der Haß die Geringschätzung (despectus)“ (Fischer
1865, 2, 365). In Georg Heinrich Schneiders Der menschliche Wille vom Stand-
punkte der neueren Entwicklungstheorien konnte sich N. übrigens nicht nur die
physiognomischen Anzeichen der „Geringschätzung“ veranschaulichen las-
sen, sondern überdies zur Kenntnis nehmen, dass diese sich nach evolutions-
theoretischer Auffassung zunächst zum „Hohn“, und der „Hohn“ sich schließ-
lich zum Hass steigere (Schneider 1882, 214).
174.
103, 2-4 Ihr Utilitarier, auch ihr liebt alles utile nur als ein Fuhrwerk eurer
Neigungen, — auch ihr findet eigentlich den Lärm seiner Räder unausstehlich?]
 
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