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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0512
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492 Jenseits von Gut und Böse

Die Neuplatoniker sprachen von Überfülle (vnEpnAfjpEc;) des vollkomme-
nen Einen, das in seinem Überfließen alles andere hervorgebracht hat (Plotin:
Enneaden V 2, 1) - eine Vorstellung, die im christlichen Gedanken, dass der
göttliche Überfluss der Güte die Schöpfung hervorgebracht habe (Pseudo-Dio-
nysios Areopagita: De divinis nominibus IV 10), Karriere machte und sowohl in
der mittelalterlichen Mystik als auch bei Leibniz wiederkehrte, der den „Über-
fluss der Güte Gottes“ gerne als Argument zur Rechtfertigung Gottes angesichts
der Übel aufgreift (Gottfried Wilhelm Leibniz: Essais de theodicee, Anhang III,
§ 7). Die exuberantia bonitatis ist bei N. vom „Überfluss der Güte“ zum „Über-
muth der Güte“ mutiert und wird gegen die traditionelle Moral erneut mit der
„Bosheit“ liiert, von der das christliche Theodizee-Projekt Gott um jeden Preis
fernhalten wollte. Die exuberantia bonitatis ist auch nicht länger ein Attribut
Gottes, sondern vielmehr eines immoralistischen Menschen.

185.
104, 13 f. „Er missfällt mir“ — Warum? — „Ich bin ihm nicht gewachsen.“ —
Hat je ein Mensch so geantwortet?] Der kleine Dialog ist eine wortwörtliche
Übernahme aus NL 1882, KSA 10, 3[1]361, 97, 12 f. Es ist eine personalisierte
Variante zu MA IIVM 391, KSA 2, 530, 5f.: „Nicht gewachsen. — Das Gute
missfällt uns, wenn wir ihm nicht gewachsen sind.“ Dass der Verbrecher seiner
Tat nicht oft nicht gewachsen sei, wird in JGB 109 behauptet, vgl. NK 92, 17 f.
Den Konnex von Missfallen und Nicht-gewachsen-Sein hat Goethe in den Maxi-
men und Reflexionen unter ästhetischem Gesichtspunkt etabliert: „Es begegne-
te und geschieht mir noch, daß ein Werk bildender Kunst mir beim ersten An-
blick mißfällt, weil ich ihm nicht gewachsen bin; ahn’ ich aber ein Verdienst
daran, so such’ ich ihm beizukommen und dann fehlt es nicht an den erfreu-
lichsten Entdeckungen; an den Dingen werd’ ich neue Eigenschaften und an
mir neue Fähigkeiten gewahr.“ (Goethe 1853-1858, 3, 166) MA II VM 391 und
JGB 185 universalisieren die bei Goethe allein auf die Kunstrezeption ausge-
richtete Beobachtung, um damit einem wichtigen Aspekt des landläufigen mo-
ralischen Urteilens kritisch näherzukommen: Gemeinhin gibt man eben - im
Unterschied zum verehrten Goethe (vgl. z. B. GD Streifzüge 49, KSA 6, 151 f. Zu
N. und Goethe allgemein auch Montinari 1982, 56-63 u. Pestalozzi 2012) - nicht
zu, einer Sache bzw. einer Person nicht gewachsen zu sein, sondern verfolgt
sie mit seinem Ressentiment.
Lampert 2001, 141 interpretiert die das Vierte Hauptstück abschließende
Sentenz als „comment on the fate of the most noble, the intrepid knower who
pursues a higher selfishness, the philosopher“. Ihre Stellung am Ende des
Hauptstücks lädt jedenfalls dazu ein, die Sentenz selbstreferentiell zu verste-
 
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