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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0515
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Stellenkommentar JGB 186, KSA 5, S. 105 495

agieren haben - Historisierung als Gegenstrategie zur Begründung! während
ihre Vorgänger im blinden Glauben an die tradierte Moral befangen waren.
Vorsichtige und forschende Beharrlichkeit gehört hier zum Anforderungsprofil
der Zukunftsphilosophen - ein Anforderungsprofil, das in starkem und gewoll-
tem Gegensatz zum letzten Abschnitt des Fünften Hauptstücks steht: In JGB
203 sind die „neuen Philosophen“ (KSA 5, 126, 10) keineswegs ,Feinar-
beiter4 bei der Entschlüsselung der moralischen Codes, sondern wollen als
Züchter neuer Menschen verstanden werden. Freilich ist auch das scheinbar
abseitige Wühlen im Moralarchiv der Menschheit jener Subversion des Gülti-
gen dienlich, die das Fünfte Hauptstück einfordert. Dass im Fortgang von JGB
dann keineswegs „bescheiden“ (105, 21) auf die „Vorbereitung zu einer Ty-
penlehre der Moral“ (105, 19 f.) gesetzt, sondern in JGB 260 munter binär
und apodiktisch typologisiert wird - „Es giebt Herren-Moral und Skla-
ven-Moral“ (208, 25f.) -, steigert den Irritationseffekt: Hier scheint jemand
moralproblematisierend und moralpolemisierend Politik zu machen. Zur Inter-
pretation von JGB 186 vgl. auch Tongeren 1989, 62-68; einen genauen Ver-
gleich von JGB 186 mit JGB 260 stellt Brusotti 2014b, 114-117 an (fälschlich steht
da jeweils JGB 230).
105, 8-20 Schon das Wort „Wissenschaft der Moral“ ist in Hinsicht auf Das,
was damit bezeichnet wird, viel zu hochmüthig und wider den guten Ge-
schmack: welcher immer ein Vorgeschmack für die bescheideneren Worte zu sein
pflegt. Man sollte, in aller Strenge, sich eingestehn, was hier auf lange hinaus
noch noth thut, was vorläufig allein Recht hat: nämlich Sammlung des Materi-
als, begriffliche Fassung und Zusammenordnung eines ungeheuren Reichs zarter
Werthgefühle und Werthunterschiede, welche leben, wachsen, zeugen und zu
Grunde gehn, — und, vielleicht, Versuche, die wiederkehrenden und häufigeren
Gestaltungen dieser lebenden Krystallisation anschaulich zu machen, — als Vor-
bereitung zu einer Typenlehre der Moral.] Die in JGB 186 dreimal wiederkeh-
rende und in Anführungszeichen gesetzte Wendung „Wissenschaft der Moral“
(105, 5 f. u. 105, 9 u. 106, 13) lässt sich bei N. nur in diesem Abschnitt belegen.
Vor N. taucht sie in der Literatur nur sporadisch auf, so im Titel der deutschen
Übersetzung von Jeremy Benthams postumer Deontology: Deontologie, oder die
Wissenschaft der Moral (1834). Ohne den Titel zu erwähnen, notierte Lecky in
einer von N. mit Randstrich markierten Fußnote süffisant, Bentham habe
„überraschend wenig für die Wissenschaft der Moral gethan, äusser dass er sie
mit einer barbarischen Nomenclatur und einer überlangen Reihe von nichtsbe-
deutenden Classificationen bereicherte“ (Lecky 1879, 1, 22, Fn. 2). In der deut-
schen Übersetzung von Leckys Werk spielt die Wendung sonst freilich keine
markante Rolle, obwohl sie in der Sache für das bei N. Verhandelte durchaus
repräsentativ gewesen ist. Auch in zwei anderen Büchern, die N. besaß, wird
 
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