498 Jenseits von Gut und Böse
Menschenliebe) sich völlig ungezwungen ergiebt, durch ein aus der Natur der
Sache hervorgehendes Trennungsprincip, welches ganz von selbst eine scharfe
Gränzlinie zieht; so daß meine Begründung der Moral jene Bewährung in der
That aufzuweisen hat, auf welche hier Kant für die seinige ganz unbegründe-
te Ansprüche macht.“ (Schopenhauer 1873-1874, 4/2,160) Der bei N. formulier-
te Einwand gegen die Begründungsversessenheit der Moralphilosophen hat bis
heute nichts an Relevanz eingebüßt, auch wenn er in diesen Kreisen weitge-
hend ungehört geblieben ist. Die eigene Befangenheit in Moral müsste die Mo-
ralphilosophen als Moralbegründer eigentlich disqualifizieren.
106,12 Vergleichung vieler Moralen] Die Pluralität von Moral als „Moralen“
ist von 1880 an in N.s Werken stark präsent (benutzt hat er den ungewöhnli-
chen Plural bereits in NL 1872/73, KSA 7, 19[2], 417), vgl. z. B. NL 1880, KSA 9,
7[49], 119, 24-28; M 9; M 425; FW 116 u. JGB 187. Im Sinne eines umfassenden
Wertungs- und Handlungsorientierungsgefüges wurde Moral schon vor N. gele-
gentlich pluralisiert (in Gestalt von „Moralen einer Fabel“, also aus einer Er-
zählung gewonnener moralischer Lehren, ist der Plural im 18. Jahrhundert oh-
nehin geläufig). Die Philosophen konnten sich jedoch mit diesem Plural meist
nicht anfreunden. Repräsentativ ist dafür Immanuel Kants Zum ewigen Frieden:
„Verschiedenheit der Religionen: ein wunderlicher Ausdruck! gerade als ob
man auch von verschiedenen Moralen spräche. Es kann wohl verschiedene
Glaubensarten [...] und eben so verschiedene Religionsbücher ([...]) geben, aber
nur eine einzige für alle Menschen und in allen Zeiten gültige Religion.“ (AA
VIII, 367) Im 19. Jahrhundert wird unter historisch-kritischem Zugriff dann zu-
nächst die Religion pluralisiert, darauf auch die Moral - ein Programm, das im
20. Jahrhundert z. B. Max Scheier (Das Ressentiment im Aufbau der Moralen,
1912) oder Oswald Spengler fortführen: „Es gibt so viele Moralen, als es Kultu-
ren gibt. Nietzsche, der als erster eine Ahnung davon hatte, ist trotzdem von
einer wirklich objektiven Morphologie der Moral - jenseits von jedem Gut und
jedem Böse - weit entfernt geblieben“ (Spengler 1963, 403).
106, 24-107,11 Man höre zum Beispiel, mit welcher beinahe verehrenswürdigen
Unschuld noch Schopenhauer seine eigene Aufgabe hinstellt, und man mache
seine Schlüsse über die Wissenschaftlichkeit einer „Wissenschaft“, deren letzte
Meister noch wie die Kinder und die alten Weibchen reden: — „das Princip, sagt
er (p. 136 der Grundprobleme der Moral), der Grundsatz, über dessen Inhalt alle
Ethiker eigentlich einig sind; neminem laede, immo omnes, quantum potes,
juva — das ist eigentlich der Satz, welchen zu begründen alle Sittenlehrer
sich abmühen.... das eigentliche Fundament der Ethik, welches man wie den
Stein der Weisen seit Jahrtausenden sucht.“ — Die Schwierigkeit, den angeführten
Satz zu begründen, mag freilich gross sein — bekanntlich ist es auch Schopenhau-
Menschenliebe) sich völlig ungezwungen ergiebt, durch ein aus der Natur der
Sache hervorgehendes Trennungsprincip, welches ganz von selbst eine scharfe
Gränzlinie zieht; so daß meine Begründung der Moral jene Bewährung in der
That aufzuweisen hat, auf welche hier Kant für die seinige ganz unbegründe-
te Ansprüche macht.“ (Schopenhauer 1873-1874, 4/2,160) Der bei N. formulier-
te Einwand gegen die Begründungsversessenheit der Moralphilosophen hat bis
heute nichts an Relevanz eingebüßt, auch wenn er in diesen Kreisen weitge-
hend ungehört geblieben ist. Die eigene Befangenheit in Moral müsste die Mo-
ralphilosophen als Moralbegründer eigentlich disqualifizieren.
106,12 Vergleichung vieler Moralen] Die Pluralität von Moral als „Moralen“
ist von 1880 an in N.s Werken stark präsent (benutzt hat er den ungewöhnli-
chen Plural bereits in NL 1872/73, KSA 7, 19[2], 417), vgl. z. B. NL 1880, KSA 9,
7[49], 119, 24-28; M 9; M 425; FW 116 u. JGB 187. Im Sinne eines umfassenden
Wertungs- und Handlungsorientierungsgefüges wurde Moral schon vor N. gele-
gentlich pluralisiert (in Gestalt von „Moralen einer Fabel“, also aus einer Er-
zählung gewonnener moralischer Lehren, ist der Plural im 18. Jahrhundert oh-
nehin geläufig). Die Philosophen konnten sich jedoch mit diesem Plural meist
nicht anfreunden. Repräsentativ ist dafür Immanuel Kants Zum ewigen Frieden:
„Verschiedenheit der Religionen: ein wunderlicher Ausdruck! gerade als ob
man auch von verschiedenen Moralen spräche. Es kann wohl verschiedene
Glaubensarten [...] und eben so verschiedene Religionsbücher ([...]) geben, aber
nur eine einzige für alle Menschen und in allen Zeiten gültige Religion.“ (AA
VIII, 367) Im 19. Jahrhundert wird unter historisch-kritischem Zugriff dann zu-
nächst die Religion pluralisiert, darauf auch die Moral - ein Programm, das im
20. Jahrhundert z. B. Max Scheier (Das Ressentiment im Aufbau der Moralen,
1912) oder Oswald Spengler fortführen: „Es gibt so viele Moralen, als es Kultu-
ren gibt. Nietzsche, der als erster eine Ahnung davon hatte, ist trotzdem von
einer wirklich objektiven Morphologie der Moral - jenseits von jedem Gut und
jedem Böse - weit entfernt geblieben“ (Spengler 1963, 403).
106, 24-107,11 Man höre zum Beispiel, mit welcher beinahe verehrenswürdigen
Unschuld noch Schopenhauer seine eigene Aufgabe hinstellt, und man mache
seine Schlüsse über die Wissenschaftlichkeit einer „Wissenschaft“, deren letzte
Meister noch wie die Kinder und die alten Weibchen reden: — „das Princip, sagt
er (p. 136 der Grundprobleme der Moral), der Grundsatz, über dessen Inhalt alle
Ethiker eigentlich einig sind; neminem laede, immo omnes, quantum potes,
juva — das ist eigentlich der Satz, welchen zu begründen alle Sittenlehrer
sich abmühen.... das eigentliche Fundament der Ethik, welches man wie den
Stein der Weisen seit Jahrtausenden sucht.“ — Die Schwierigkeit, den angeführten
Satz zu begründen, mag freilich gross sein — bekanntlich ist es auch Schopenhau-