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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0528
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508 Jenseits von Gut und Böse

ein unerbittliches Gewissen wohnt — „um einer Thorheit willen“, wie utilitarische
Tölpel sagen, welche sich damit klug dünken, — „aus Unterwürfigkeit gegen Will-
kür-Gesetze“, wie die Anarchisten sagen, die sich damit „frei“, selbst freigeistisch
wähnen.] Dieser Einschub evoziert die Einwände, die von intellektueller Seite
gegen den scheinbar stupiden Zwang moralischer Disziplinierung vorgebracht
werden: Utiliaristen (wie Jeremy Bentham) halten moralische Setzungen, die
nicht dem größtmöglichen Nutzen der größtmöglichen Zahl zugute kommen,
für eine Torheit (und plädieren wie der von N. studierte John Stuart Mill für
eine größtmögliche laisser «ZZer-Freiheit des Individuums). Anarchisten (in JGB
204, KSA 5,131, 13 erscheint Eugen Dühring explizit als solcher) fragen gleich-
falls nach dem mit dem Moralzwang intendierten Zweck, wollen diesen Zweck
als Herrschaftswillkür entlarven und verlangen Freiheit vom Moralzwang. Zum
zeitgenössischen Begriff des Anarchismus, der bei N. meist abwertend-pole-
misch verwendet wird, vgl. z. B. NK KSA 6, 132, 17.
Bei den in Anführungszeichen stehenden Sätzen scheint es sich nicht um
utilitaristische und anarchistische Originalzitate zu handeln. Dass die „Tölpel“
„utilitaristisch“ seien, ist im Übrigen erst eine Zutat der Druckfassung von JGB
188; in KGW IX 5, W I 8, 259, 30-32 heißt es nur: ,„um einer Thorheit willen4,
wie die Oberflächlichen sagen rTölpel sagen, welche sich klug dünken-1“. ,,[U]m
[s]einer Thorheit willen“ ist eine Wendung aus Luthers Bibelübersetzung, vgl.
z. B. Sprüche 5, 23 (Die Bibel: Altes Testament 1818, 632) oder Jesus Sirach 8,
18: „Wandere nicht mit einem Tollkühnen, daß er dich nicht in Unglück bringe,
denn er richtet an, was er will; so mußt du denn um seiner Thorheit willen
Schaden leiden.“ (Die Bibel: Altes Testament 1818, 964). In KGW IX 5, W I 8,
259, 32-34 ist die „Unterwürfigkeit“ noch mit dem allerdings gestrichenen Epi-
theton „sklavischen“ versehen; die Agitation gegen jede Art der Unterwürfig-
keit unter politisch(-moralisch)e Macht gehörte für N. quasi zum Definiens von
Anarchismus, der ihm eher als Schlagwort, denn als klar kontuirierte politische
Bewegung vor Augen stand.
108,18-26 Der wunderliche Thatbestand ist aber, dass Alles, was es von Frei-
heit, Feinheit, Kühnheit, Tanz und meisterlicher Sicherheit auf Erden giebt oder
gegeben hat, sei es nun in dem Denken selbst, oder im Regieren, oder im Reden
und Überreden, in den Künsten ebenso wie in den Sittlichkeiten, sich erst vermö-
ge der „Tyrannei solcher Willkür-Gesetze“ entwickelt hat; und allen Ernstes, die
Wahrscheinlichkeit dafür ist nicht gering, dass gerade dies „Natur“ und „natür-
lich“ sei — und nicht jenes laisser aller!] Freiheit ist damit nichts an sich Gege-
benes, sondern nur etwas (wert), wenn sie erkämpft wird, als Folge einer durch
Zwang bewirkten Abrichtung. In GD Streifzüge eines Unzeitgemässen 38, KSA
6, 139f. wird daraus dann explizit „Mein Begriff von Freiheit“ (KSA 6,
139, 6). Zum Naturbegriff siehe NK ÜK JGB 188.
 
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