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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0531
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Stellenkommentar JGB 189, KSA 5, S. 110-111 511

und Sublimierungsleistung, damit in einer spezifischen Höherentwicklung des
Menschen findet, für die es in einer permissiven und liberalen laisser aller-
Gesellschaft keinen Raum gegeben hätte (vgl. NK 108, 2-6), behandelt JGB 47
dieselben Praktiken als (psycho-)pathologische Erscheinungen (siehe NK 67,
28-68, 6; dort auch Hinweise zu N.s Quellen). Zwischen beiden Perspektiven
besteht zwar eine Spannung, aber kein offener Widerspruch, wird doch auch
in JGB 189 nicht behauptet, Askese sei Ausdruck eines gesunden, sich selbst
bejahenden Lebens, sondern nur, dass sie der Selbstreinigung, zugleich aber
auch der Schärfung der Triebe dienen könne (110, 29 f.). Liegt der Akzent in
JGB 47 auf der individuellen Schadensträchtigkeit der Askese, so liegt er in JGB
189 auf dem Potential ihres kollektiven und kulturellen Nutzens.
HO, 30-32 zum Beispiel die Stoa inmitten der hellenistischen Cultur und ihrer
mit aphrodisischen Düften überladenen und geil gewordenen Luft] Georg Peter
Weygoldt erklärte in seiner von N. studierten Philosophie der Stoa die dezidiert
religiöse und asketische Tendenz stoischen Philosophierens mit dessen halb-
orientalischem Ursprung: „Der unerschütterliche Gleichmut des Stoikers, seine
Affektlosigkeit, seine Abwehr alles dessen, was Gefühle des Schmerzes oder
der Lust erzeugen könnte, seine Abgeneigtheit, sich an den Gemeinde- und
Staatsangelegenheiten zu beteiligen, das alles ist im Grunde dem Orientalen,
nicht dem Griechen eigen“ (Weygoldt 1883, 72).
111,1-5 Hiermit ist auch ein Wink zur Erklärung jenes Paradoxons gegeben, wa-
rum gerade in der christlichsten Periode Europa’s und überhaupt erst unter dem
Druck christlicher Werthurtheile der Geschlechtstrieb sich bis zur Liebe (amour-
passion) sublimirt hat.] JGB 260 führt die Erfindung von „Liebe als Passion“ auf
die provenzalische Kultur des Mittelalters zurück, vgl. NK 212, 17-23. In KGW
IX 5, W I 8, 276, 8-2 (sic) heißt es: „Hierin liegt liegt ein Wink rzur Erklärung
der Paradoxa-1, warum gerade in der christlichen Periode |u unter dem Druck
christl. WerthurtheileJ Europas der Geschlechtstrieb bis zur Vornehmheit,Lie-
be4 rsich-' sublimirt [hat. -J “ Der Ausdruck „amour-passion“, französisch für
„Liebe als Passion/Leidenschaft“ fehlt. KSA 14, 358 verweist als Quelle dafür
auf Stendhals De l’amour, das sich zwar nicht in N.s Bibliothek erhalten hat,
auf das sich aber auch andere Bezugnahmen bei N. nachweisen lassen (vgl.
Brusotti 1997, 290 f., Fn. 156 u. 296, Fn. 166, ferner 427 u. Piazzesi 2011, 139-
142 sowie Campioni 2009, 49). N. benutzte den französischen Ausdruck gele-
gentlich im Nachlass (NL 1880, KSA 9, 1[25], 12, 23; 4[81], 120, 11; NL 1887, KSA
12, 10[144], 537, 10, entspricht KGW IX 6, W II 2, 43); er taucht allerdings nicht
nur bei Stendhal, sondern auch auch in anderen Lektüren N.s auf (z. B. Lemai-
tre 1886a, 94). Gleich zu Beginn seines Werkes unterscheidet Stendhal vier Ar-
ten der Liebe: „l’amour-passion“, „l’amour-goüt“ (Stendhal 1854c, 1), „l’amour
 
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