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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0532
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512 Jenseits von Gut und Böse

physique“ und schließlich „l’amour de vanite“ (ebd., 2). Für „l’amour-passion“
gab Stendhal keine Definition, sondern nur Beispiele, etwa die Liebe der portu-
giesischen Nonne in den berühmten Lettres portugaises traduites en frangois,
die Mariana Alcoforado verfasst haben soll, oder die Liebe Heloisas für Abä-
lard. Immerhin machte Stendhal dann den Unterschied zwischen „l’amour-
passion“ und „l’amour-goüt“ daran fest, dass echte Liebe wie ein Fieber sei,
das entstehe und erlösche, ohne dass der Wille daran Anteil habe (ebd., 12).
Später betonte er die Verwandlungskraft der Liebe als Leidenschaft: „Dans huit
jours, si vous avez l’amour-passion, vous serez un autre homme“ (ebd., 93. „In
acht Tagen, wenn Sie Liebesleidenschaft haben, werden Sie ein anderer
Mensch sein“). Während JGB 189 die asketische Disziplinierung durch das
Christentum und damit einen langfristigen Sublimationsdruck für die Entste-
hung der Liebe als Passion namhaft machte, gab sich auch Stendhal zögerlich,
was die Existenz von „amour-passion“ in der vorchristlichen Antike anbelangt:
„Sapho ne vit dans l’amour que le delire des sens ou le plaisir physique subli-
me par la cristallisation. Anacreon y chercha un amusement pour les sens et
pour l’esprit. II y avait trop peu de sürete dans l’antiquite pour qu’on eüt le
loisir d’avoir un amour-passion.“ (Ebd., 236. „Sappho sah in der Liebe nur das
Delirium der Sinne oder das körperliche, von Kristallisation sublimierte Ver-
gnügen. Anakreon suchte dort ein Vergnügen für die Sinne und für den Geist.
Es gab zu wenig Sicherheit im Altertum, dass man die Freiheit hatte, eine Lie-
besleidenschaft zu haben.“) Stendhal hält das Auftreten von „amour-passion“
für ein Kennzeichen fortgeschrittener Kultur: „Dans une societe tres-avancee,
1’amour-passion est aussi naturel que l’amour physique chez les sauvages.“
(Ebd., 265. „In einer sehr fortgeschrittenen Gesellschaft ist die Liebesleiden-
schaft so natürlich wie die physische Liebe bei den Wilden.“)

190.
Eine ältere Fassung dieses Abschnitts ist enthalten in KGW IX 5, W I 8, 207, 1-
34. KSA 14, 358 teilt aus dem Manuskriptheft M III 4 als „erste Fassung“ mit:
„Antike Niaiserie der Moral. - Keiner will sich selber Schaden thun
und folglich ist alles Böse unfreiwillig. - Denn der Böse fügt sich
selber Schaden zu, aber er glaubt das Gegentheil. - Vorausset-
zung: das Gute: was uns nützt“. Zur Interpretation von JGB 190 vgl. z.B.
Sandvoss 1966, 68-71, Schmidt 1969, 265 u. Lampert 2001, 153-156.
111, 7-15 Es giebt Etwas in der Moral Plato’s, das nicht eigentlich zu Plato ge-
hört, sondern sich nur an seiner Philosophie vorfindet, man könnte sagen, trotz
Plato: nämlich der Sokratismus, für den er eigentlich zu vornehm war. „Keiner
 
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