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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0534
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514 Jenseits von Gut und Böse

„Utilitarismus“, zieht gleichfalls die antike Parallele, separiert jedoch Platon
und schreibt die fragliche Lehre Sokrates zu. Platon scheint doch nicht gelun-
gen zu sein, was gegen Ende von JGB 190 angedeutet wird, nämlich Sokrates
„in alle seine eignen Masken und Vielfältigkeiten“ (111, TI f.) zu übersetzen und
sich damit gänzlich dienstbar zu machen: Triumphiert der Plebejer Sokrates
über den Aristokraten Platon?
111, 28-30 Im Scherz gesprochen, und noch dazu homerisch: was ist denn der
platonische Sokrates, wenn nicht npoade nAäzajv ötuQev te nAäzajv pecrari te
Xlpaipa.] Die griechische Sentenz - übersetzt: „Platon von vorn, Platon am
Ende, in der Mitte die Chimaira [oder: Ziege]“ - hat N. bereits in NL 1883, KSA
1, 8 [15], 340, 11 notiert. Es handelt sich um die Abwandlung eines Verses aus
Homers Ilias VI 181 (der auch bei Hesiod: Theogonie 323 überliefert ist) über
das Mischwesen Chimaira: „np6o0E Aegjv, ötu0ev öe öpaKorv, psooq ös xipotipa“
(„Löwe von vorn, ein Drache am Ende, in der Mitte eine Ziege“). Dieser Vers
wurde, was N. aus seinen Diogenes-Laertius-Studien wusste, in der Antike po-
lemisch auf Arkesilaos umgemünzt, der sich als Haupt der Platonischen Aka-
demie stark der pyrrhonischen Skepsis angenähert hatte: „Hp6o0E HAutgjv,
ötu0ev nüppwv, psocroc; AtoÖGjpoq“ („Platon von vorn, Pyrrhon am Ende, in der
Mitte Diodor.“ Diogenes Laertius: De vitis IV 33; vgl. auch den N. wohlbekann-
ten, auf Homer und Hesiod verweisenden Kommentar zu dieser Stelle: Casau-
bon 1830, 76 u. 533 f., sowie die Parallelüberlieferung bei Sextus Empiricus:
Pyrrhonische Hypotyposen I 234). JGB 190 leitet den Spott auf den Sokrates in
Platons Dialogen um, der als ein monströses Mischwesen aus Platon und Chi-
märe erscheint (xifiaipa als „Ziege“ würde mit einer Minuskel beginnen. N.
wählte die Großschreibung Xipaipa für den Eigennamen).

191.
JGB 191 setzt das Sokrates-Platon-Thema des vorangegangenen Abschnitts fort
und trägt in die Personenkonstellation ein Grundsatzproblem ein. Der Text ar-
beitet mit genau jenen Strategien der dialektischen (Selbst-)Überlistung, die
Sokrates unterstellt werden: Eingangs wird zunächst einmal ,,[d]as alte theolo-
gische Problem von ,Glauben4 und ,Wissen“4 mit dem Problem von „Instinkt
und Vernunft“ kurzgeschlossen, das wiederum in der „Frage“ aufgeht, ob bei
moralischen Werturteilen „Instinkt“ oder „Vernünftigkeit“ den Vorzug verdiene
(112, 2-5). Der Umstand, dass ein Problem von Glauben und Wissen als „theo-
logisches Problem“ erst in dem Augenblick auftreten konnte, als eine Theolo-
gie den Glauben an eine göttliche Offenbarung zu verwalten beanspruchte,
also mit dem Christentum, wird in der Eingangssequenz ebenso verwischt wie
 
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