516 Jenseits von Gut und Böse
nur ein Werkzeug“ (113, 4) sei, wird man die Binarität von Vernunft und Ins-
tinkt aufzugeben gezwungen, da die Vernunft letztlich ohnmächtig ist und oh-
nehin nur als Erfüllungsgehilfin der Instinkte agiert.
Zur Interpretation von JGB 191 vgl. z. B. Hödl 2009, 389 f. und Lampert
2001, 156-161.
112, 10-23 Sokrates selbst hatte sich zwar mit dem Geschmack seines Talen-
tes — dem eines überlegenen Dialektikers — zunächst auf Seiten der Vernunft
gestellt; und in Wahrheit, was hat er sein Leben lang gethan, als über die linki-
sche Unfähigkeit seiner vornehmen Athener zu lachen, welche Menschen des Ins-
tinktes waren gleich allen vornehmen Menschen und niemals genügend über die
Gründe ihres Handelns Auskunft geben konnten? Zuletzt aber, im Stillen und Ge-
heimen, lachte er auch über sich selbst: er fand bei sich, vor seinem feineren
Gewissen und Selbstverhör, die gleiche Schwierigkeit und Unfähigkeit. Wozu
aber, redete er sich zu, sich deshalb von den Instinkten lösen! Man muss ihnen
und auch der Vernunft zum Recht verhelfen, — man muss den Instinkten folgen,
aber die Vernunft überreden, ihnen dabei mit guten Gründen nachzuhelfen.] In
EH GT 1 sollte N. es als eine wesentliche Erkenntnis seines Frühwerkes Die
Geburt der Tragödie namhaft machen, in Sokrates den typischen decadent ge-
funden zu haben, der „Vernünftigkeit4 gegen Instinkt“ (KSA 6, 310, 21) ins
Feld geführt hätte (vgl. NK KSA 6, 310, 19-21). Tatsächlich hat Sokrates nach
GT 13 jene in JGB 191 wiederholte Beobachtung bewegt, dass die Menschen
„selbst über ihren Beruf ohne richtige und sichere Einsicht seien und densel-
ben nur aus Instinct trieben. ,Nur aus Instinct4: mit diesem Ausdruck berühren
wir Herz und Mittelpunkt der sokratischen Tendenz. Mit ihm verurtheilt der
Sokratismus eben so die bestehende Kunst wie die bestehende Ethik: wohin er
seine prüfenden Blicke richtet, sieht er den Mangel der Einsicht und die Macht
des Wahns und schliesst aus diesem Mangel auf die innerliche Verkehrtheit
und Verwerflichkeit des Vorhandenen.“ (KSA 1, 89, 23-30). „Auflösung der Ins-
tinkte“ (NL 1872/73, KSA 7, 23[35], 555, 26) lautet bereits eine frühe Diagnose
zu Sokrates’ Wirkung auf die griechische Kultur. Dennoch gewinnt das Thema
„Sokrates und die Instinkte“ erst Mitte der 1880er Jahre Prominenz (vgl. z. B.
GT Versuch einer Selbstkritik 1, KSA 1, 12 u. GD Das Problem des Sokrates 4,
KSA 6, 69, 13). Während JGB 191 Sokrates als heimlichen Befürworter der Ins-
tinktherrschaft charakterisiert, kehren die Werke von 1888 mit der Opposition
von Vernunft und Instinkt und mit Sokrates als Vernünftling wieder zu den
Vorgaben des Frühwerks zurück. Gemäß N.s Vorlesung Die vorplatonischen Phi-
losophen (1869-1876) habe bei Sokrates eine „Lösung von den moralischen Ins-
tinkten“ stattgefunden — Instinkte, die nichts anderes als die „in Formeln ge-
brachte überall in Griechenland geachtete u. lebendige praktische Moral“ ge-
wesen seien (KGWII/4, 354, vgl. NK KSA 6, 69, 21 f.). Der Sokrates, wie er in 112,
nur ein Werkzeug“ (113, 4) sei, wird man die Binarität von Vernunft und Ins-
tinkt aufzugeben gezwungen, da die Vernunft letztlich ohnmächtig ist und oh-
nehin nur als Erfüllungsgehilfin der Instinkte agiert.
Zur Interpretation von JGB 191 vgl. z. B. Hödl 2009, 389 f. und Lampert
2001, 156-161.
112, 10-23 Sokrates selbst hatte sich zwar mit dem Geschmack seines Talen-
tes — dem eines überlegenen Dialektikers — zunächst auf Seiten der Vernunft
gestellt; und in Wahrheit, was hat er sein Leben lang gethan, als über die linki-
sche Unfähigkeit seiner vornehmen Athener zu lachen, welche Menschen des Ins-
tinktes waren gleich allen vornehmen Menschen und niemals genügend über die
Gründe ihres Handelns Auskunft geben konnten? Zuletzt aber, im Stillen und Ge-
heimen, lachte er auch über sich selbst: er fand bei sich, vor seinem feineren
Gewissen und Selbstverhör, die gleiche Schwierigkeit und Unfähigkeit. Wozu
aber, redete er sich zu, sich deshalb von den Instinkten lösen! Man muss ihnen
und auch der Vernunft zum Recht verhelfen, — man muss den Instinkten folgen,
aber die Vernunft überreden, ihnen dabei mit guten Gründen nachzuhelfen.] In
EH GT 1 sollte N. es als eine wesentliche Erkenntnis seines Frühwerkes Die
Geburt der Tragödie namhaft machen, in Sokrates den typischen decadent ge-
funden zu haben, der „Vernünftigkeit4 gegen Instinkt“ (KSA 6, 310, 21) ins
Feld geführt hätte (vgl. NK KSA 6, 310, 19-21). Tatsächlich hat Sokrates nach
GT 13 jene in JGB 191 wiederholte Beobachtung bewegt, dass die Menschen
„selbst über ihren Beruf ohne richtige und sichere Einsicht seien und densel-
ben nur aus Instinct trieben. ,Nur aus Instinct4: mit diesem Ausdruck berühren
wir Herz und Mittelpunkt der sokratischen Tendenz. Mit ihm verurtheilt der
Sokratismus eben so die bestehende Kunst wie die bestehende Ethik: wohin er
seine prüfenden Blicke richtet, sieht er den Mangel der Einsicht und die Macht
des Wahns und schliesst aus diesem Mangel auf die innerliche Verkehrtheit
und Verwerflichkeit des Vorhandenen.“ (KSA 1, 89, 23-30). „Auflösung der Ins-
tinkte“ (NL 1872/73, KSA 7, 23[35], 555, 26) lautet bereits eine frühe Diagnose
zu Sokrates’ Wirkung auf die griechische Kultur. Dennoch gewinnt das Thema
„Sokrates und die Instinkte“ erst Mitte der 1880er Jahre Prominenz (vgl. z. B.
GT Versuch einer Selbstkritik 1, KSA 1, 12 u. GD Das Problem des Sokrates 4,
KSA 6, 69, 13). Während JGB 191 Sokrates als heimlichen Befürworter der Ins-
tinktherrschaft charakterisiert, kehren die Werke von 1888 mit der Opposition
von Vernunft und Instinkt und mit Sokrates als Vernünftling wieder zu den
Vorgaben des Frühwerks zurück. Gemäß N.s Vorlesung Die vorplatonischen Phi-
losophen (1869-1876) habe bei Sokrates eine „Lösung von den moralischen Ins-
tinkten“ stattgefunden — Instinkte, die nichts anderes als die „in Formeln ge-
brachte überall in Griechenland geachtete u. lebendige praktische Moral“ ge-
wesen seien (KGWII/4, 354, vgl. NK KSA 6, 69, 21 f.). Der Sokrates, wie er in 112,