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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0544
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524 Jenseits von Gut und Böse

le, ist eine unbillige Forderung, angesehen, daß die intellektuelle Ver-/3O5/
schiedenheit der Menschen so groß ist, wie die moralische, und Das will viel
sagen“ (Schopenhauer 1864, 304 f.).
115,16-29 In Betreff eines Weibes zum Beispiel gilt dem Bescheideneren schon
die Verfügung über den Leib und der Geschlechtsgenuss als ausreichendes und
genugthuendes Anzeichen des Habens, des Besitzens; ein Anderer, mit seinem
argwöhnischeren und anspruchsvolleren Durste nach Besitz, sieht das „Fragezei-
chen“, das nur Scheinbare eines solchen Habens, und will feinere Proben, vor
Allem, um zu wissen, ob das Weib nicht nur ihm sich giebt, sondern auch für ihn
lässt, was sie hat oder gerne hätte s o erst gilt es ihm als „besessen“. Ein
Dritter aber ist auch hier noch nicht am Ende seines Misstrauens und Habenwol-
lens, er fragt sich, ob das Weib, wenn es Alles für ihn lässt, dies nicht etwa für
ein Phantom von ihm thut: er will erst gründlich, ja abgründlich gut gekannt sein,
um überhaupt geliebt werden zu können, er wagt es, sich errathen zu lassen —.]
Vgl. auch FW 363, KSA 3, 610-612. Eduard von Hartmann hat in seiner N. wohl-
bekannten Philosophie des Unbewussten eine illusionslose Betrachtung darü-
ber angestellt, dass die Kosten und Leiden der Liebe weit größer sind als deren
Gewinn und Wonnen. Das fängt schon im Animalischen an: „Diese unfreiwilli-
ge Enthaltsamkeit des grössten Theiles der Männchen, und die den Unterlie-
genden durch die Kämpfe verursachten Schmerzen und Aerger scheinen mir
an Unlust die den beglückten Männchen aus dem Geschlechtsgenuss erwach-
sende Lust hundertfach zu überbieten“ (Hartmann 1869, 557). Probehalber wird
dann bei menschlichen Liebesverhältnissen zugestanden, dass da ein „sehr
starker Wille nach dem Besitze /661/ der Geliebten im Bewusstsein vorhanden
sei“ (ebd., 660 f.). Darauf folgt aber gleich der Einwand, dass ,,[e]in Kalif“, „der
sich bewusst ist, dass er jedes Frauenzimmer, das ihm gefällt, sich nur anzu-
schaffen braucht, um sie zu besitzen, [...] sich der Befriedigung seines Willens
fast gar nicht bewusst werde[.], und sei er in einem besonderen Falle noch so
stark. Hieraus geht aber schon das hervor, dass die Lust der Befriedigung nur
erkauft wird durch vorangehende Unlust über die vermeintliche Unmöglich-
keit, zum Besitze zu gelangen“ (ebd., 661). Die Sublimationsformen der Liebe
bleiben bei Hartmann zurückverwiesen auf die harten Tatsachen der Willens-
physiologie und des Besitzenswollens, mag der Liebende noch so sehr in
„überschwengliche[r] Seligkeit“ schwelgen: „Von einer solchen Seligkeit oder
Lust existirt aber nirgends etwas, da sich der Genuss rein aus der Befriedigung
jenes erst zu motivirenden heftigen Willens nach dem Besitze und aus dem
gemeinen physischen Geschlechtsgenusse zusammensetzt. Sowie die Heftig-
keit des Triebes das Bewusstsein gewissermaassen aufathmen und zu einiger
Klarheit kommen lässt, wird es der Enttäuschung seiner Erwartung inne.“
(Ebd., 562) Hartmann war an der Heillosigkeit der Liebe interessiert, während
 
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