530 Jenseits von Gut und Böse
dem sich schon Machiavelli und später Jacob Burckhardt erschreckt und hinge-
rissen zugleich zeigten, wird in N.s Spätschriften zum Paradeexempel des Im-
moralisten, der seinen Willen zur Macht rücksichtslos ausagiert hat (vgl. z. B.
NK KSA 6, 136, 14; NK KSA 6, 224, 1-7 u. NK KSA 6, 251, 9; ferner Venturelli
2003, 132 f.). Auch die Raubtier-Metapher, die N. gerne auf ihn applizierte (vgl.
die Vorarbeit zu JGB 197 in NL 1884, KSA 11, 25[37], 21: „Mißverständniß des
Raubthiers: sehr gesund wie Cesare Borgia! Die Eigenschaften der Jagdhun-
de“), ist schon vor N. bei der Charakterisierung Cesare Borgias geradezu to-
pisch. So galt er in der von N. konsultierten Geschichte der englischen Literatur
aus der Feder von Hippolyte Taine als idealtypische Verkörperung der Renais-
sance-Kultur: „Die vollkommene Entwicklung der Geistesgaben und aller Be-
gierden, die gänzliche Beseitigung aller Schranken und jeder Scham - dies
sind die beiden hervorstechenden Züge dieser großartigen und verderbten Cul-
tur. Den Menschen zu einem genialen, kühnen, geistesgegenwärtigen, schlau
berechnenden, verstellungsfähigen, geduldigen Wesen zu machen und all’ die-
se Gaben auf die Erstrebung aller Vergnügungen - solche des Leibes, der Küns-
te, der Prachtentfaltung, der Wissenschaft, der Macht - hinzulenken, das
heißt: ein wunderbares, fürchterliches, blutdürstiges und wohlbewaffnetes
Thier zu schaffen, - dies ist das Ziel jener Cultur [...]. Diese Menschen zerreißen
sich unter einander, wie schöne Löwen und prächtige Panther.“ (Taine 1878b,
1, 553, Nachweis bei Campioni 2009,193.) Nach der N. gleichfalls wohlbekann-
ten Culturgeschichte Friedrich von Hellwalds habe damals „der persönliche
Trieb, keinem höheren Gesetze sich unterordnend, sich zum Maasse aller Din-
ge“ gemacht (Hellwald 1876-1877a, 2, 421). Hellwald zog daraus kritische Fol-
gerungen für den Status moderner moralischer Urteile, die denen bei N. ähn-
lich sind: „Daraus allein erklären sich ungezwungen die brutalen Mord- und
Gewaltthaten eines Cäsar Borgia wie die herrlichen Schöpfungen eines
Bramante und die inhaltsschweren /422/ Sätze eines Macchiavelli. Nur wenn
man sich ganz in diese denkwürdige Epoche versenkt, findet man das Maass
zu ihrem Verständniss, begreift man als das Unsittliche das damals Sittliche,
sieht man die Auswüchse der Kirche als eine nothwendige Zugabe des Zeital-
ters an. Wäre es wahr, dass die Sittlichkeit ein unwandelbarer Begriff, ein
transcendentales ,Princip‘, an das die Gesittung geknüpft ist, in der Weise,
dass Beide mit einander gedeihen, wachsen und verkümmern, wir würden
nicht so oft in der Geschichte die höchste Blüthenentfaltung in Perioden sehr
zweifelhafter Moralität beobachten können.“ (Ebd., 421 f.)
JGB 197 erweitert nun die Raubtiermetapher hin zum „Urwald“ und assozi-
iert die Tropen mit dem „Raubmenschen“, der den moralischen Vorurteilen
,,gemäßigte[r] Zonen“, sprich: der herdenmoralisch domestizierten Mitteleuro-
päer zum Opfer gefallen sei. Verschiedene Erscheinungsformen des Mensch-
dem sich schon Machiavelli und später Jacob Burckhardt erschreckt und hinge-
rissen zugleich zeigten, wird in N.s Spätschriften zum Paradeexempel des Im-
moralisten, der seinen Willen zur Macht rücksichtslos ausagiert hat (vgl. z. B.
NK KSA 6, 136, 14; NK KSA 6, 224, 1-7 u. NK KSA 6, 251, 9; ferner Venturelli
2003, 132 f.). Auch die Raubtier-Metapher, die N. gerne auf ihn applizierte (vgl.
die Vorarbeit zu JGB 197 in NL 1884, KSA 11, 25[37], 21: „Mißverständniß des
Raubthiers: sehr gesund wie Cesare Borgia! Die Eigenschaften der Jagdhun-
de“), ist schon vor N. bei der Charakterisierung Cesare Borgias geradezu to-
pisch. So galt er in der von N. konsultierten Geschichte der englischen Literatur
aus der Feder von Hippolyte Taine als idealtypische Verkörperung der Renais-
sance-Kultur: „Die vollkommene Entwicklung der Geistesgaben und aller Be-
gierden, die gänzliche Beseitigung aller Schranken und jeder Scham - dies
sind die beiden hervorstechenden Züge dieser großartigen und verderbten Cul-
tur. Den Menschen zu einem genialen, kühnen, geistesgegenwärtigen, schlau
berechnenden, verstellungsfähigen, geduldigen Wesen zu machen und all’ die-
se Gaben auf die Erstrebung aller Vergnügungen - solche des Leibes, der Küns-
te, der Prachtentfaltung, der Wissenschaft, der Macht - hinzulenken, das
heißt: ein wunderbares, fürchterliches, blutdürstiges und wohlbewaffnetes
Thier zu schaffen, - dies ist das Ziel jener Cultur [...]. Diese Menschen zerreißen
sich unter einander, wie schöne Löwen und prächtige Panther.“ (Taine 1878b,
1, 553, Nachweis bei Campioni 2009,193.) Nach der N. gleichfalls wohlbekann-
ten Culturgeschichte Friedrich von Hellwalds habe damals „der persönliche
Trieb, keinem höheren Gesetze sich unterordnend, sich zum Maasse aller Din-
ge“ gemacht (Hellwald 1876-1877a, 2, 421). Hellwald zog daraus kritische Fol-
gerungen für den Status moderner moralischer Urteile, die denen bei N. ähn-
lich sind: „Daraus allein erklären sich ungezwungen die brutalen Mord- und
Gewaltthaten eines Cäsar Borgia wie die herrlichen Schöpfungen eines
Bramante und die inhaltsschweren /422/ Sätze eines Macchiavelli. Nur wenn
man sich ganz in diese denkwürdige Epoche versenkt, findet man das Maass
zu ihrem Verständniss, begreift man als das Unsittliche das damals Sittliche,
sieht man die Auswüchse der Kirche als eine nothwendige Zugabe des Zeital-
ters an. Wäre es wahr, dass die Sittlichkeit ein unwandelbarer Begriff, ein
transcendentales ,Princip‘, an das die Gesittung geknüpft ist, in der Weise,
dass Beide mit einander gedeihen, wachsen und verkümmern, wir würden
nicht so oft in der Geschichte die höchste Blüthenentfaltung in Perioden sehr
zweifelhafter Moralität beobachten können.“ (Ebd., 421 f.)
JGB 197 erweitert nun die Raubtiermetapher hin zum „Urwald“ und assozi-
iert die Tropen mit dem „Raubmenschen“, der den moralischen Vorurteilen
,,gemäßigte[r] Zonen“, sprich: der herdenmoralisch domestizierten Mitteleuro-
päer zum Opfer gefallen sei. Verschiedene Erscheinungsformen des Mensch-